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Ruskin, John
Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung (Band 15): Moderne Maler (Band 5): Die Schönheit des Blattes. Über Wolkenschönheit. Über Beziehungsbegriffe — Leipzig, 1904

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https://doi.org/10.11588/diglit.4917#0072
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DER ZWEIG

§ 1. Bis jetzt haben wir angenommen, dass jeder Schöss-
ling entweder gerade oder nur durch die Spirale der Knos-
pen gekrümmt sei; in Wahrheit aber kann gar kein Zweig,
außer der ganz junger Bäumchen, jemals gerade wachsen;
denn, da die Blätter, die er trägt, ohne Unterlass sich
strecken und beugen, um Nahrung und Licht zu erlangen,
folgt ihnen der Zweig als liebender Vater überall hin und
biegt sich in die Stellung, die ihm den besten Halt, ihnen
die günstigste Stellung gewährt.

Zwei Kräfte vor allem sind es, die auf ihn wirken, und
denen er sich unterwerfen muss: die Bewegung der Blätter,
die ihn dahin und dorthin ziehen, wo sie ihnen günstige
Bedingungen finden, und der Druck ihres Gewichtes, wenn
sie zur Ruhe gekommen sind, der natürlich zunimmt, wenn
sie sich entfalten. An vielen Orten gesellt sich der Einfluss
eines vorherrschenden Windes hinzu, der an der Mehr-
zahl der Tage des Jahres heulend die Äste durchfährt
und Knospen, Blätter und Zweige stundenlang beugt und
aus ihrer natürlichen Lage presst. Dank diesen Kräften ist
der Zweig fast immer in mindestens zwei Richtungen ge-
krümmt;* d. h. nicht bloß so wie der Rand eines Glases
(so dass, wenn man aus der gleichen Höhe drauf sieht, der
Kreis zur geraden Linie wird), sondern so wie die Lippe
oder Braue, teils vor- und teils aufwärts, so dass er von
gar keinem Standpunkte aus zur geraden Linie werden
kann.
* Siehe Fig. 11, S. 30.
 
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