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Ruskin, John
Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung (Band 15): Moderne Maler (Band 5): Die Schönheit des Blattes. Über Wolkenschönheit. Über Beziehungsbegriffe — Leipzig, 1904

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https://doi.org/10.11588/diglit.4917#0361
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höheres Leben vorbereitet wird? Lasst uns essen und
trinken (so gut wie nur möglich!), denn morgen sind wir
tot. Lasst uns nur hienieden die höchste Staffel des Ruhmes
erklimmen und hier die Ersten sein, denn es gibt ja kein
künftiges geistiges Leben.

§ 3. Man beachte, dass dies alles weder im Geiste der
Griechen, noch in dem der Römer gesprochen ist. Weder
Claude noch Poussin, noch irgend ein anderer Maler oder
Dichter, der gewöhnlich klassisch genannt wird, ist in die
innerste Seele der Alten eingedrungen, die viel inniger von
dem Vertrauen und der Hoffnung auf Unsterblichkeit durch-
drungen war, als unsere eigenen Gedanken.

Aus dem fehlenden Glauben an ein allgütiges höchstes
Wesen entsteht naturgemäß der Wille, selber zu richten und
zu vergelten und die Zügel der Welt selbst in die Hand zu
nehmen; vor allem aber die unehrerbietige Gewohnheit zu
kritisieren, anstatt zu bewundern, die man gewöhnlich mit
dem erbärmlichen Ausdruck „guten Geschmack" bezeichnet.

§ 4. In zweiter Linie entsteht daraus die Gewohnheit, sich
selbst zu beherrschen und zurückzuhalten (anstatt impulsiv
und unbedingt zu gehorchen), die auf dem Stolze beruht
und meistens Hohn und Verachtung für die Schwachen und
Hilflosen in sich schließt. Beachtung wird nur den Ge-
boten der Männer geschenkt, die selbst von Jugend auf in
dieser Selbstbeherrschung erzogen worden sind. Daher die
Bezeichnung klassisch, nach dem lateinischen classicus.

§ 5. Diese Schule wird also am besten bezeichnet als
die des Geschmackes und der Mäßigung in allen Dingen.
Als die des Geschmackes, steht jedes Kunstwerk unter
dem Beschauer, so dass er seine Vorzüge und Fehler mit
kritischer Miene prüft, anstatt es da»kbar von oben zu
empfangen. Kein Ding wird genossen als unentbehrliche
Nahrung, wie Brot, sondern alles nur gekostet als Lecker-
bissen. Dieser Geist aber hat die Kunst seit dem Ende
des sechzehnten Jahrhunderts völlig vernichtet, er hat die
französische Literatur arg verwüstet, und auch auf unserer
Literatur in England hat er in dieser Zeit schwer gelastet
und unsere ganze Erziehung (außer in körperlicher Be-
 
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