Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Ruskin, John
Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung (Band 15): Moderne Maler (Band 5): Die Schönheit des Blattes. Über Wolkenschönheit. Über Beziehungsbegriffe — Leipzig, 1904

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4917#0496
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
2. Ich kann ebensogut sagen, seine Irrtümer allein.
Vielleicht werden die Menschen eines Tages wieder die
Kraft und Schönheit des altgriechischen Wortes für Sünde
verstehen und erkennen, dass die Sünde in ihrem tiefsten
Kerne nichts ist als „das Ziel verfehlen"; den Himmel und
die Gebote des Gewissens aus dem Auge verlieren; dass
die persönliche Schuld daran gar ungleichartig sein kann;
und dass es sich für uns nicht schickt, sie zu richten. Es
war dereinst gar ernst und streng das Wort gesprochen
worden: „Richtet nicht"; mir scheint, dass dieses Wort
stets angeführt wird, wenn heute die Menschen „zu Recht
und Gericht" übereinander sitzen. Denn es ist wahrlich
ein vergnügliches Gefühl, die Verirrungen der Menschen
zu verdammen! Aber bitter ist es, die Wahrheit auszu-
forschen und es sich Mühe und Arbeit kosten zu lassen,
nach Recht und Billigkeit zu handeln. Und darum besteht
die übliche moderne Auslegung des Gebotes: „Richtet nicht"
darin, die Mühe des gewissenhaften Urteilsprechens ganz
zu vermeiden, die erste beste angenehm boshafte Aus-
legung einer Sache für unbedingt wahr zu halten und uns
die Bewilligung für unsere eigenen Handlungen, die der
Billigkeit zuwiderlaufen, zu erteilen, indem wir an denen
der andern gleichfalls Nachsicht üben!

Aber diese Art des Gehorsams ist gerade die, die dem
Geiste des Gesetzes der Barmherzigkeit und Wahrheit am
meisten widerspricht.

§ 3. „Lege das Joch auf deinen Nacken." Ich sagte
■ rnmer, dass von einem giftigen Baume nie gute Frucht
kommen könne. Und die Lehre, die uns Turners Leben
erteilt, ist in großen Zügen die, dass all seine Stärke
und Kraft aus barmherzigem Sinne und Wahrhaftigkeit ent-
sprang; all seine Fehler aus seinem Mangel an standhaft
unerschütterlichem Glauben. Mehrere seiner Freunde haben
mich gebeten, seinem Charakter, der von aller Welt falsch
gedeutet wurde, doch endlich Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen. Wenn mir noch Leben vergönnt ist, so will ich es
tun. Aber viele Seiten seines Wesens sind mir noch un-
klar; die Daten, die mir zu Gebote stehen, sind unvoll-

29*
 
Annotationen