DIE WURZELN DER RENAISSANCE-PLASTIK
IN ITALIEN
In Italien lebten die nächstberechtigten Erben der antiken
Kultur und als des Volkes Lebenskraft wieder erwacht war,
konnte es in seinem Drange nach künstlerischer Betätigung
keinen anderen Wertmesser, kein besseres Vorbild finden, als
die erhaltenen Werke des Altertums. — Durch das ganze Mittel-
alter hindurch sind freilich die antiken Denkmäler diesseits und
jenseits der Alpen von Einfluß gewesen. Aber sehr verschieden
war das, was die einzelnen Kultur-Epochen von ihnen lernen
wollten. In dem frühen Mittelalter war es häufig „die technische
Seite, die mechanische Kunstfertigkeit, deren Wert wir modernen
Menschen meist unterschätzen, die aber das war, was das Mittel-
alter in erster Linie nachzuahmen trachtete“.1) Auch die cis-
alpine Gotik hat — speziell für Gewandbehandlung — viel von
der Antike gelernt. Aber das italienische Volk griff nicht nur
einzelnes heraus, es lernte aus der Fülle antiker Denkmäler das,
was ihnen selbst viel stärker eingeboren ist, als uns Deutschen:
das Bedürfnis nach Vereinfachung, nach Größe, nach Klarheit
der Form. Der Einfluß der Antike auf das stammverwandte
Volk war so andauernd, so stark, daß weder in der Architektur
noch in den darstellenden Künsten die Gotik in Italien so festen
Fuß fassen konnte wie im Norden.
Giovanni Pisano, der häufig der erste Gotiker Italiens
genannt wird, entnimmt der französischen Gotik zwar manch
einzelne Ausdrucksform, aber er hat in seinen Figuren fast
durchgängig eine Klarheit der räumlichen Erscheinung, eine
Deutlichkeit der Bewegung durch Markierung der Gelenke und
eine Körperbelebung durch divergierende Glieder, statt durch
divergierende Faltenzüge, daß er den Renaissanceprinzipien
näher steht, als manches Werk deutscher Plastik vom Ausgang
des fünfzehnten Jahrhunderts. Dasselbe gilt für Andrea Pisano
und für Ghiberti, obwohl auf diese beiden der Ausdruck Gotiker
sehr viel besser paßt. Der schönlinige Stil Andreas’ war jahr-
zehntelang wohl der tonangebende in Florenz, aber die ältere —
man kann sagen nationale — Richtung, die in unmittelbarem
z) Vergl. Springer: Das Nachleben der Antike im Mittelalter in den
„Bildern aus der neueren Kunstgeschichte“, 15 ff.
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IN ITALIEN
In Italien lebten die nächstberechtigten Erben der antiken
Kultur und als des Volkes Lebenskraft wieder erwacht war,
konnte es in seinem Drange nach künstlerischer Betätigung
keinen anderen Wertmesser, kein besseres Vorbild finden, als
die erhaltenen Werke des Altertums. — Durch das ganze Mittel-
alter hindurch sind freilich die antiken Denkmäler diesseits und
jenseits der Alpen von Einfluß gewesen. Aber sehr verschieden
war das, was die einzelnen Kultur-Epochen von ihnen lernen
wollten. In dem frühen Mittelalter war es häufig „die technische
Seite, die mechanische Kunstfertigkeit, deren Wert wir modernen
Menschen meist unterschätzen, die aber das war, was das Mittel-
alter in erster Linie nachzuahmen trachtete“.1) Auch die cis-
alpine Gotik hat — speziell für Gewandbehandlung — viel von
der Antike gelernt. Aber das italienische Volk griff nicht nur
einzelnes heraus, es lernte aus der Fülle antiker Denkmäler das,
was ihnen selbst viel stärker eingeboren ist, als uns Deutschen:
das Bedürfnis nach Vereinfachung, nach Größe, nach Klarheit
der Form. Der Einfluß der Antike auf das stammverwandte
Volk war so andauernd, so stark, daß weder in der Architektur
noch in den darstellenden Künsten die Gotik in Italien so festen
Fuß fassen konnte wie im Norden.
Giovanni Pisano, der häufig der erste Gotiker Italiens
genannt wird, entnimmt der französischen Gotik zwar manch
einzelne Ausdrucksform, aber er hat in seinen Figuren fast
durchgängig eine Klarheit der räumlichen Erscheinung, eine
Deutlichkeit der Bewegung durch Markierung der Gelenke und
eine Körperbelebung durch divergierende Glieder, statt durch
divergierende Faltenzüge, daß er den Renaissanceprinzipien
näher steht, als manches Werk deutscher Plastik vom Ausgang
des fünfzehnten Jahrhunderts. Dasselbe gilt für Andrea Pisano
und für Ghiberti, obwohl auf diese beiden der Ausdruck Gotiker
sehr viel besser paßt. Der schönlinige Stil Andreas’ war jahr-
zehntelang wohl der tonangebende in Florenz, aber die ältere —
man kann sagen nationale — Richtung, die in unmittelbarem
z) Vergl. Springer: Das Nachleben der Antike im Mittelalter in den
„Bildern aus der neueren Kunstgeschichte“, 15 ff.
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