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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 2): Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München: Bruckmann, 1879

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https://doi.org/10.11588/diglit.66815#0214
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Siebentes Hauptstück.

Nun sind aber diese Wurzelformen der Tektonik viel älter als
die Baukunst und bereits in vormonumentaler Zeit an dem beweg-
lichen Hausrath zu vollster und sehr ausgesprochener Entwicklung und
Ausbildung gelangt, ehe die heilige Hütte, das Gottesgehäuse, das
monumentale Gezimmer seine Kunstform erhielt. Daraus folgt nach
dem allgemeinen Gesetze des menschlichen Schaffens, dass diese, nämlich
die Kunstform des monumentalen Gezimmers, nothwendig eine Modifi-
kation desjenigen war, was die Tektonik an ihrem älteren Objekte aus
sich heraus gebildet hatte.
Dieser wichtige Sachbestand, worauf bereits des Oefteren in dem
Vorhergehenden hingewiesen worden ist, beseitigt ein für allemal den
müssigen Streit über die vitruvianische Holzhütte, als angebliches Vor-
bild und rohestes Motiv des Tempels für dessen Gesammtform und seine
architektonischen Glieder. Sie beseitigt auch andere Theorien, die erst
in neuester Zeit auftauchten, wonach der vollendete dorische Tempel
ohne Vorbild und Antecedens, aus den materiellsten Erfordernissen des
angewandten Stoffes, nämlich des Steines, wie Pallas Athene, vollständig
gewappnet und gerüstet hervorging. 1 Der Tempel bleibt immer ein
Pegma, ein Gezimmer, in dem eben bezeichneten Sinne, sei er aus
Holz oder aus Stein erbaut, aber ihre Kunstformen haben beide, der
hölzerne wie der steinerne Tempel, weder aus sich heraus „erbildet“,
noch von einander* entlehnt, sondern mit Pegmen gemein, die als Haus-
geräthe bereits viel früher mit ihnen eigenthümlichen Kunstformen
bekleidet worden waren.
Diese Typen erfahren in dem monumentalen Gerüste allerdings
grosse Umwandlungen, aber dieses nur, insoweit der neue Zweck, der
neue Stoff, vornehmlich aber der nun entstandene Gegensatz zwischen
dem beweglichen Hausrath und dem unbeweglichen Baue sie herbei-
führen und nothwendig machen.
Aber die Kunstformen, mit denen man den Hausrath umkleidete,
ehe die monumentale Kunst sie annahm, sind ihrerseits ebenfalls nicht
primitiv, sondern zusammengesetzt und in gewissem Sinne entlehnt,
insofern nämlich sich in ihnen eine bekannte Kunstsprache vernehmen
lässt, die (um das grammatikalische Gleichniss festzuhalten) ihre Wort-

1 Am weitesten geht hierin der Architekt Viollet Le Duc, der die cylindrische
Form der Säulen aus dem Vortheile herleitet, den diese Form den Steinbrechern
gewährt, da die Säulentrommeln bequem von den Brüchen herunter gerollt werden
können!
 
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