Anhang.
565
Gottfried Semper.
Von Fr. Pecht.
Im Verlaufe der Kunstgeschichte finden wir vielleicht nichts so
selten, als die Vereinigung tiefen theoretischen Wissens mit künstlerisch
schöpferischer Kraft. Denn die Erringung von jenem setzt eine Ab-
straktionsfähigkeit, eine Gewöhnung, begrifflich zu konstruiren, voraus,
die der künstlerischen Intuition durchaus widerspricht, die Thätigkeit der
Phantasie im Gestaltenbilden hemmt. Die Neigung zum Theoretisiren
ist immer das Zeichen einer mangelnden oder doch ruhenden Produk-
tivität, sagte bekanntlich schon Goethe, ohne es selber je lassen zu können.
Darum sind denn auch die grossen Künstler selten gelehrt gewesen und,
wo sie es waren, noch seltener zu ihrem Vortheil.
Nichtsdestoweniger ist es zu allen Zeiten besonders reich und
schöpferisch angelegten Geistern gelungen, beides zu vereinigen und dann
gerade dadurch epochemachend zu wirken. Man könnte wohl sagen:
das Einschlagen neuer Wege gehe fast immer von solchen sogenannten
„denkenden Künstlern“ aus, welche Naivetät und Ursprünglichkeit der
Empfindung, eine reiche Phantasie mit scharf prüfendem und analysiren-
dem Verstände vereinigen. Ja, das was man Genialität nennt, scheint
in den meisten Fällen gerade aus der Vereinigung der beiden sich an-
scheinend so ausschliessenden Eigenschaften zu entstehen.
Wer den grossen Meister näher gekannt hat, dessen thatenreiches
Leben am 15. Mai 1879 in Rom seinen Abschluss gefunden, der wird
auch wissen, dass ihn, wie wenige andere, diese Vereinigung von tiefem
Gemüth, fast überreicher, gestaltenbildender Phantasie und durchdringen-
dem, logisch geschultem Geiste charakterisirte, die ihn zur Erringung
eines unermesslichen Wissens befähigte. Dafür war aber die erstere
Fähigkeit doch so entschieden in ihm vorherrschend, dass er durch sie
allein zur Kunst hingeführt ward, der er sich ja ursprünglich gar nicht
widmen wollte. Was aber Semper ganz besonders charakterisirte und
schöpferisch machte, war, dass diese beiden Potenzen seines Wesens bei
ihm fortwährend nur alternirten, nie zusammen auftraten, und dass Ge-
müth und Phantasie sogar bei allen grossen Entscheidungen seines
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Gottfried Semper.
Von Fr. Pecht.
Im Verlaufe der Kunstgeschichte finden wir vielleicht nichts so
selten, als die Vereinigung tiefen theoretischen Wissens mit künstlerisch
schöpferischer Kraft. Denn die Erringung von jenem setzt eine Ab-
straktionsfähigkeit, eine Gewöhnung, begrifflich zu konstruiren, voraus,
die der künstlerischen Intuition durchaus widerspricht, die Thätigkeit der
Phantasie im Gestaltenbilden hemmt. Die Neigung zum Theoretisiren
ist immer das Zeichen einer mangelnden oder doch ruhenden Produk-
tivität, sagte bekanntlich schon Goethe, ohne es selber je lassen zu können.
Darum sind denn auch die grossen Künstler selten gelehrt gewesen und,
wo sie es waren, noch seltener zu ihrem Vortheil.
Nichtsdestoweniger ist es zu allen Zeiten besonders reich und
schöpferisch angelegten Geistern gelungen, beides zu vereinigen und dann
gerade dadurch epochemachend zu wirken. Man könnte wohl sagen:
das Einschlagen neuer Wege gehe fast immer von solchen sogenannten
„denkenden Künstlern“ aus, welche Naivetät und Ursprünglichkeit der
Empfindung, eine reiche Phantasie mit scharf prüfendem und analysiren-
dem Verstände vereinigen. Ja, das was man Genialität nennt, scheint
in den meisten Fällen gerade aus der Vereinigung der beiden sich an-
scheinend so ausschliessenden Eigenschaften zu entstehen.
Wer den grossen Meister näher gekannt hat, dessen thatenreiches
Leben am 15. Mai 1879 in Rom seinen Abschluss gefunden, der wird
auch wissen, dass ihn, wie wenige andere, diese Vereinigung von tiefem
Gemüth, fast überreicher, gestaltenbildender Phantasie und durchdringen-
dem, logisch geschultem Geiste charakterisirte, die ihn zur Erringung
eines unermesslichen Wissens befähigte. Dafür war aber die erstere
Fähigkeit doch so entschieden in ihm vorherrschend, dass er durch sie
allein zur Kunst hingeführt ward, der er sich ja ursprünglich gar nicht
widmen wollte. Was aber Semper ganz besonders charakterisirte und
schöpferisch machte, war, dass diese beiden Potenzen seines Wesens bei
ihm fortwährend nur alternirten, nie zusammen auftraten, und dass Ge-
müth und Phantasie sogar bei allen grossen Entscheidungen seines