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hätten diejenigen ja recht, die auf Fehler und Ungenauig-
keiten hinweisen wie die Kleinheit der Knaben und die
Größe der Schlangen, und die behaupten, daß solch ein
Mann in einem einzigen Augenblick, und noch dazu in
solch einem Augenblick, nie so viele Gefühle zugleich, ja
eigentlich überhaupt keines ausdrücken könne — denn
wer von einer Schlange gebissen wird, hat keine Zeit,
trotzig, schuldbewußt oder gottergeben zu sein.
Daß auch die Gestaltung der Sage nicht dasjenige ist,
was den einmaligen Wert des Werkes ausmacht, haben
wir bereits angedeutet.
Auch in der Betrachtung der Form ist nicht die Ant-
wort auf die Frage nach dem letzten Sinn des Werkes zu
erhoffen. Wie sollte auch die bloße Meisterschaft der
Linien, die Beherrschung des Plastischen, die technische
Vollkommenheit den Wesenskern des Werkes ausmachen?
Nein, es kann heute nicht mehr unsere Aufgabe sein,
aufs neue all die Möglichkeiten zu erwägen, welcher
Augenblick gewählt und welches Gefühl zum Ausdruck
gebracht seien, welche Sagenform zur Darstellung ge-
bracht wurde und mit welchen künstlerischen Mitteln die
Gruppe aufgebaut und ausgeführt sei. Eine solche Be-
trachtungsweise klammert sich allzu ängstlich an die
Vorstellung, daß doch die Künstler selbst nur ein ein-
ziges Ziel gehabt haben könnten, und daß unsere Auf-
gabe eben sei, dieses zu finden. Diese Betrachtungsweise
verkennt, daß jedes Kunstwerk nicht nur das Werk sei-
nes Schöpfers, sondern auch das seiner Betrachter ist, ja,
daß gerade die größten Werke oft in erstaunlicher Weise
ein von ihrem Schöpfer nicht geahntes Eigenleben be-
ginnen.
Es gibt keine für alle gültige Anweisung, ein solches
Werk wie den Laokoon als Kunstwerk zu sehen und zu
betrachten, keine allein richtige, aber auch keine völlig
falsche. Niemand von all denen, die in echter Ergriffen-
heit von diesem Meisterwerk angesprochen und ange-
rührt wurden, hat unrecht gehabt. Wer selber Leid und
Qual der menschlichen Existenz, ihr hoffnungsloses Ver-
stricktsein in Schuld und Not erlebt und erfahren hat,
dem sollte man es nicht verargen, wenn er hier ein Bild

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