AUS G. E. LESSINGS LAOKOON
Wenn es wahr ist, daß das Schreien bei Empfindung
körperlichen Schmerzes, besonders nach der alten
griechischen Denkungsart, gar wohl mit einer großen
Seele bestehen kann: so kann der Ausdruck einer solchen
Seele die Ursache nicht sein, warum demohngeachtet der
Künstler in seinem Marmor dieses Schreien nicht nach-
ahmen wollen; sondern es muß einen andern Grund ha-
ben, warum er hier von seinem Nebenbuhler, dem Dich-
ter, abgehet, der dieses Geschrei mit bestem Vorsatze
ausdrücket.. .
Der Meister arbeitete auf die höchste Schönheit, unter
den angenommenen Umständen des körperlichen Schmer-
zes. Dieser, in aller seiner entstellenden Heftigkeit, war
mit jener nicht zu verbinden. Er mußte ihn also herab-
setzen; er mußte Schreien in Seufzen mildern; nicht weil
das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es
das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet. Denn
man reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund
auf, und urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe . ..
Kann der Künstler von der immer veränderlichen
Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der
Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur
aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber
ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrach-
tet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet
zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick
und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes,
nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige
aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft
freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen
wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken,
desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen
Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick, der die-
sen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben.
Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste
zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie
nötigen, da sie über den sinnlichen Eindruck nicht hin-
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Wenn es wahr ist, daß das Schreien bei Empfindung
körperlichen Schmerzes, besonders nach der alten
griechischen Denkungsart, gar wohl mit einer großen
Seele bestehen kann: so kann der Ausdruck einer solchen
Seele die Ursache nicht sein, warum demohngeachtet der
Künstler in seinem Marmor dieses Schreien nicht nach-
ahmen wollen; sondern es muß einen andern Grund ha-
ben, warum er hier von seinem Nebenbuhler, dem Dich-
ter, abgehet, der dieses Geschrei mit bestem Vorsatze
ausdrücket.. .
Der Meister arbeitete auf die höchste Schönheit, unter
den angenommenen Umständen des körperlichen Schmer-
zes. Dieser, in aller seiner entstellenden Heftigkeit, war
mit jener nicht zu verbinden. Er mußte ihn also herab-
setzen; er mußte Schreien in Seufzen mildern; nicht weil
das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es
das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet. Denn
man reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund
auf, und urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe . ..
Kann der Künstler von der immer veränderlichen
Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der
Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur
aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber
ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrach-
tet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet
zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick
und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes,
nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige
aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft
freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen
wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken,
desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen
Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick, der die-
sen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben.
Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste
zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie
nötigen, da sie über den sinnlichen Eindruck nicht hin-
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