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holde Grazie und reine Anmut, ein leichter schlanker Formenkanon lebt,
die eine andere, viel einfachere, die Landestracht idealisierende Gewandung
zeigen, die in wenigen großen Motiven an den biegsamen Körpern herunter
fällt. Die feingeschnittenen kleinen Köpfe atmen den neuen Schönheits-
typus, der nun für eine lange Zeit das gotische Schönheitsideal bestimmt.
Und wie merkwürdig mischt sich damit der erste ganz klar erfaßte Natu-
ralismus. Bamberg und Naumburg, Mainz, Halberstadt und Trier spiegeln
diese Entwicklung in Deutschland wider. Nein, die Kathedrale war uns
ans Herz gewachsen wie den Franzosen. Auch wir erblickten in ihr eine der
wunderbarsten und stärksten Offenbarungen des mittelalterlichen Kunst-
wollens. Nie haben wir den Formenwillen der Gotik so gleichmäßig durch
ein ganzes Baugefüge reden gehört.
Und nun erinnere man sich an jene Mitteilung, in der die französische
Regierung in der zweiten Hälfte des September bei ihren Verbündeten und
den Neutralen gegen die Zerstörung ihrer Kathedrale, die eine Verletzung
der vertraglichen Bestimmungen der Haager Konvention betreffend den
Landkrieg bedeute, feierlich protestiert hat. Ohne sich auch nur auf den
Schein militärischer Notwendigkeit berufen zu können, einzig aus Zer-
störungssucht hätten die deutschen Truppen die Kathedrale von Keims
einer systematischen und heftigen Beschießung unterzogen. Zur gegen-
wärtigen Stunde sei die berühmte Kathedrale nur mehr ein Trümmerhaufen.
Ton und Glaubwürdigkeit dieser Mitteilung richteten sich schon durch diesen
letzten Satz, und der Bericht der von dem Ministerium des öffentlichen
Unterrichts ausgesandten Sonderkommission unter dem Vorsitz des Unter-
staatssekretärs der schönen Künste, M. Dalimier, mußte die Erklärung der
Regierung schon nach wenigen Tagen dementieren. Nun noch einmal —
zum wievielten Male schon — müssen wir hervorheben, daß Keims zunächst
eben eine Festung war, eine starke, durch einen weitgespannten Fort-
gürtel gesicherte, erst vor einem Menschenalter und damals ohne jeden
Einspruch der Franzosen oder der internationalen Kunstfreunde angelegte
Festung, die in den letzten Monaten noch mit allen zur Verfügung stehenden
Mitteln durch Batterien und Feldstellungen ausgebaut ist. Theodor Fon-
tane und Anton Springer, die 1871 in Keims geweilt hatten, erzählen, wie
damals die deutschen Truppen der Kathedrale die Honneurs erwiesen haben.
Zweimal sind die deutschen Heere in diesem Krieg durch Reims durch-
passiert und deutsche Truppen haben für geraume Zeit die Stadt besetzt
gehalten, wie auch im Jahre 1870 für ein paar Herbstwochen das deutsche
Hauptquartier hier lag. Die Kathedrale und alle übrigen Denkmäler sind
dabei ehrfurchtsvoll geschützt und bewahrt gewesen. Unsere Soldaten
haben truppweise die Kathedrale besucht und bewundert. Ein deutscher
Professor der Kunstgeschichte, der als Offizier im Felde steht, hat seinen
Leuten dort einen Vortrag über das ganze Denkmal gehalten. Wenn blinde
Zerstörungssucht die Deutschen geleitet hätte, so hätten sie es mit der
Zerstörung der Kathedrale bei dieser Gelegenheit doch wahrlich um so viel
bequemer gehabt.
Und wie steht es nun mit der von der französischen Regierung be-
haupteten systematischen Beschießung, der die deutschen Truppen „einzig
aus Zerstörungssucht, ohne sich auch nur auf den Schein militärischer
Notwendigkeit berufen zu können“, die Kathedrale unterzogen hatten?
holde Grazie und reine Anmut, ein leichter schlanker Formenkanon lebt,
die eine andere, viel einfachere, die Landestracht idealisierende Gewandung
zeigen, die in wenigen großen Motiven an den biegsamen Körpern herunter
fällt. Die feingeschnittenen kleinen Köpfe atmen den neuen Schönheits-
typus, der nun für eine lange Zeit das gotische Schönheitsideal bestimmt.
Und wie merkwürdig mischt sich damit der erste ganz klar erfaßte Natu-
ralismus. Bamberg und Naumburg, Mainz, Halberstadt und Trier spiegeln
diese Entwicklung in Deutschland wider. Nein, die Kathedrale war uns
ans Herz gewachsen wie den Franzosen. Auch wir erblickten in ihr eine der
wunderbarsten und stärksten Offenbarungen des mittelalterlichen Kunst-
wollens. Nie haben wir den Formenwillen der Gotik so gleichmäßig durch
ein ganzes Baugefüge reden gehört.
Und nun erinnere man sich an jene Mitteilung, in der die französische
Regierung in der zweiten Hälfte des September bei ihren Verbündeten und
den Neutralen gegen die Zerstörung ihrer Kathedrale, die eine Verletzung
der vertraglichen Bestimmungen der Haager Konvention betreffend den
Landkrieg bedeute, feierlich protestiert hat. Ohne sich auch nur auf den
Schein militärischer Notwendigkeit berufen zu können, einzig aus Zer-
störungssucht hätten die deutschen Truppen die Kathedrale von Keims
einer systematischen und heftigen Beschießung unterzogen. Zur gegen-
wärtigen Stunde sei die berühmte Kathedrale nur mehr ein Trümmerhaufen.
Ton und Glaubwürdigkeit dieser Mitteilung richteten sich schon durch diesen
letzten Satz, und der Bericht der von dem Ministerium des öffentlichen
Unterrichts ausgesandten Sonderkommission unter dem Vorsitz des Unter-
staatssekretärs der schönen Künste, M. Dalimier, mußte die Erklärung der
Regierung schon nach wenigen Tagen dementieren. Nun noch einmal —
zum wievielten Male schon — müssen wir hervorheben, daß Keims zunächst
eben eine Festung war, eine starke, durch einen weitgespannten Fort-
gürtel gesicherte, erst vor einem Menschenalter und damals ohne jeden
Einspruch der Franzosen oder der internationalen Kunstfreunde angelegte
Festung, die in den letzten Monaten noch mit allen zur Verfügung stehenden
Mitteln durch Batterien und Feldstellungen ausgebaut ist. Theodor Fon-
tane und Anton Springer, die 1871 in Keims geweilt hatten, erzählen, wie
damals die deutschen Truppen der Kathedrale die Honneurs erwiesen haben.
Zweimal sind die deutschen Heere in diesem Krieg durch Reims durch-
passiert und deutsche Truppen haben für geraume Zeit die Stadt besetzt
gehalten, wie auch im Jahre 1870 für ein paar Herbstwochen das deutsche
Hauptquartier hier lag. Die Kathedrale und alle übrigen Denkmäler sind
dabei ehrfurchtsvoll geschützt und bewahrt gewesen. Unsere Soldaten
haben truppweise die Kathedrale besucht und bewundert. Ein deutscher
Professor der Kunstgeschichte, der als Offizier im Felde steht, hat seinen
Leuten dort einen Vortrag über das ganze Denkmal gehalten. Wenn blinde
Zerstörungssucht die Deutschen geleitet hätte, so hätten sie es mit der
Zerstörung der Kathedrale bei dieser Gelegenheit doch wahrlich um so viel
bequemer gehabt.
Und wie steht es nun mit der von der französischen Regierung be-
haupteten systematischen Beschießung, der die deutschen Truppen „einzig
aus Zerstörungssucht, ohne sich auch nur auf den Schein militärischer
Notwendigkeit berufen zu können“, die Kathedrale unterzogen hatten?