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Die Minotauros-Sage, die zweite Vorstellung, welche nothwendig gegeben sein musste, bevor sich
die Sage von einem Kampfe zwischen Theseus und Minotauros bilden konnte, ist sowohl ihrer Entstehung,
als auch ihrer weitern Ausbildung nach schon Gegenstand mehrfacher wissenschaftlicher Untersuchungen
geworden. Wir erinnern nur an die drei bedeutendsten von Creuzer *), Böttiger3) und Hoeck3). Wenn wir
dennoch die Entstehung dieser Sage einer erneuten Untersuchung unterwerfen, so geschieht dies eines
Theils, weil einige Fragen noch gar keine Beantwortung gefunden haben, andern Theils, weil uns die
Beantwortung anderer entweder noch nicht die vollständig richtige, oder doch nicht gehörig begründet
scheint.
Man halte also zunächst fest, dass wir hier wieder, wie bei der Theseus-Sage, nur die Entstehung
der Sage, dass es einen Minotauros gegeben habe, zu untersuchen haben, und dass wir dies thun,
indem wir nachweisen, wo, wann, und durch welche Vorstellungsreihen sie gebildet sei 5 eine Forderung,
durch deren strengste Erfüllung allein das Gelingen der Untersuchung möglich wird, und deren
Vernachlässigung hauptsächlich das bisherige Misslingen derselben herbeigeführt hat. Dass nun das
vom Minotauros Ausgesagte nur von Athen oder Kreta ausgegangen sein kann, hat man längst
eingesehen, da nur attische und kretische Verhältnisse und Vorstellungen darin aufgenommen sind.
Was aber den Kretern und was den Athenern zukomme, genau zu untersuchen und zu beweisen,
hat man bisher unterlassen. Da der Name Minotauros offenbar attisch gebildet ist, so erkennt man
soviel sogleich mit völliger Sicherheit, dass der Gedanke, es habe einen Minotauros gegeben, nothwendig
zuerst in Athen ausgesprochen sein muss. Demnach brauchen allerdings die Athener Nichts dabei gethan
zu haben, als einem schon in Kretischer Sage gekannten Wesen einen andern Namen gegeben zu haben.
Ob dem jedoch so sei, oder nicht, kann erst entschieden werden, wenn wir die Vorstellungsreihen
aufsuchen werden, durch welche die Athener zu dieser Sage bewogen wurden. Für jetzt genügt es, zu
wissen, dass die Sage, welche das ehemalige Dasein eines Minotauros genannten Wesens behauptete,
gewiss zuerst in Athen ausgesprochen ist.
Den Zeitpunkt, in welchem die Minotauros-Sage entstand, hat, so viel ich weiss, nur Voss4)
zu bestimmen gesucht und als solchen Ol. XXX angenommen. Da jedoch die Unhaltbarkeit der Gründe,
auf welchen diese Annahme beruht, von Hoeck ö) nachgewiesen ist, so fällt sie auch selbst zusammen und
die Untersuchung muss auf anderem Wege von Neuem vorgenommen werden.
Nun könnte man aus einer Stelle des Servius 6) schliessen wollen, dass schon Sappho das dem
Minotauros dargebrachte Opfer der sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen erwähnt habe. Allein Servius
will dort nur nachweisen, dass einige Schriftsteller die Anzahl der Begleiter des Theseus als Vierzehn
angeben, ohne zu beachten, was gerade jeder einzelne derselben von diesen Vierzehn an den angeführten
Stellen aussagt. Dies geht mit voller Bestimmtheit nicht nur aus den Worten des Servius selbst hervor,
sondern auch daraus, dass Virgil 7) an der Stelle, zu welcher er diese Bemerkung macht, davon spricht,
1) Symbolik IV, p. 129 ff.
2) Ideen zur Kunstm. I, p. 332 ff.
3) Kreta II, p. 57 ff.
4) Mythol. Forsch, p. 101.
5) Kreta II, p. XV.
6) Zu Virg. Aen. VI, 21. Quidam Septem pueros et septem pnellas accipi
volunt, quod et Plato dicit in Phaedone, et Sappho in Lyricis, et Bacchylides
in Dithyrambis et Euripides in Hercule.
7) Aen. VI, 20 ff. Tum pendere poenas
Cecropidae iussi (miserum) septena quotannis
Corpora natorum; stat ductis sortibus urna.
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Die Minotauros-Sage, die zweite Vorstellung, welche nothwendig gegeben sein musste, bevor sich
die Sage von einem Kampfe zwischen Theseus und Minotauros bilden konnte, ist sowohl ihrer Entstehung,
als auch ihrer weitern Ausbildung nach schon Gegenstand mehrfacher wissenschaftlicher Untersuchungen
geworden. Wir erinnern nur an die drei bedeutendsten von Creuzer *), Böttiger3) und Hoeck3). Wenn wir
dennoch die Entstehung dieser Sage einer erneuten Untersuchung unterwerfen, so geschieht dies eines
Theils, weil einige Fragen noch gar keine Beantwortung gefunden haben, andern Theils, weil uns die
Beantwortung anderer entweder noch nicht die vollständig richtige, oder doch nicht gehörig begründet
scheint.
Man halte also zunächst fest, dass wir hier wieder, wie bei der Theseus-Sage, nur die Entstehung
der Sage, dass es einen Minotauros gegeben habe, zu untersuchen haben, und dass wir dies thun,
indem wir nachweisen, wo, wann, und durch welche Vorstellungsreihen sie gebildet sei 5 eine Forderung,
durch deren strengste Erfüllung allein das Gelingen der Untersuchung möglich wird, und deren
Vernachlässigung hauptsächlich das bisherige Misslingen derselben herbeigeführt hat. Dass nun das
vom Minotauros Ausgesagte nur von Athen oder Kreta ausgegangen sein kann, hat man längst
eingesehen, da nur attische und kretische Verhältnisse und Vorstellungen darin aufgenommen sind.
Was aber den Kretern und was den Athenern zukomme, genau zu untersuchen und zu beweisen,
hat man bisher unterlassen. Da der Name Minotauros offenbar attisch gebildet ist, so erkennt man
soviel sogleich mit völliger Sicherheit, dass der Gedanke, es habe einen Minotauros gegeben, nothwendig
zuerst in Athen ausgesprochen sein muss. Demnach brauchen allerdings die Athener Nichts dabei gethan
zu haben, als einem schon in Kretischer Sage gekannten Wesen einen andern Namen gegeben zu haben.
Ob dem jedoch so sei, oder nicht, kann erst entschieden werden, wenn wir die Vorstellungsreihen
aufsuchen werden, durch welche die Athener zu dieser Sage bewogen wurden. Für jetzt genügt es, zu
wissen, dass die Sage, welche das ehemalige Dasein eines Minotauros genannten Wesens behauptete,
gewiss zuerst in Athen ausgesprochen ist.
Den Zeitpunkt, in welchem die Minotauros-Sage entstand, hat, so viel ich weiss, nur Voss4)
zu bestimmen gesucht und als solchen Ol. XXX angenommen. Da jedoch die Unhaltbarkeit der Gründe,
auf welchen diese Annahme beruht, von Hoeck ö) nachgewiesen ist, so fällt sie auch selbst zusammen und
die Untersuchung muss auf anderem Wege von Neuem vorgenommen werden.
Nun könnte man aus einer Stelle des Servius 6) schliessen wollen, dass schon Sappho das dem
Minotauros dargebrachte Opfer der sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen erwähnt habe. Allein Servius
will dort nur nachweisen, dass einige Schriftsteller die Anzahl der Begleiter des Theseus als Vierzehn
angeben, ohne zu beachten, was gerade jeder einzelne derselben von diesen Vierzehn an den angeführten
Stellen aussagt. Dies geht mit voller Bestimmtheit nicht nur aus den Worten des Servius selbst hervor,
sondern auch daraus, dass Virgil 7) an der Stelle, zu welcher er diese Bemerkung macht, davon spricht,
1) Symbolik IV, p. 129 ff.
2) Ideen zur Kunstm. I, p. 332 ff.
3) Kreta II, p. 57 ff.
4) Mythol. Forsch, p. 101.
5) Kreta II, p. XV.
6) Zu Virg. Aen. VI, 21. Quidam Septem pueros et septem pnellas accipi
volunt, quod et Plato dicit in Phaedone, et Sappho in Lyricis, et Bacchylides
in Dithyrambis et Euripides in Hercule.
7) Aen. VI, 20 ff. Tum pendere poenas
Cecropidae iussi (miserum) septena quotannis
Corpora natorum; stat ductis sortibus urna.