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Erstes Kapitel.
geführt. Es lässt sich nicht nur zuverlässig behaupten, dass diese
wichtige Kunst sich bei wilden Stämmen wirklich in einem rudi-
mentären Zustande findet, sondern hinreichende Beweise thun dar,
dass die Zählkunst sich durch vernunftmässige Erfindung von
dieser niedrigen Stufe bis zu der hohen, auf welcher wir selbst
sie besitzen, entwickelt hat. Die Prüfung der Mythologie, mit wel-
cher der erste Band schliesst, ist zum grössten Theil von einem
besonderen Gesichtspunkt angestellt, und zwar auf Grundlagen von
Zeugnissen, welche zu dem speciellen Zwecke gesammelt worden,
die Beziehungen zwischen den Mythen wilder Stämme und ihren
Analogis bei höher civilisirten Nationen zu verfolgen. Das Resul-
tat solcher Forschungen scheint zu beweisen, dass die frühesten
Mythenmacher bei wilden Horden auftraten und blühten, indem
sie so eine Kunst ins Leben riefen, welche ihre höher civilisirten
Nachfolger weiterbildeten, bis ihre Erzeugnisse in Aberglauben ver-
steinerten, irrthümlich als Geschichte betrachtet, in der Poesie zu-
gestutzt und ausgeputzt oder als Lug und Trug und Thorheit bei
Seite geworfen wurden.
Nirgends vielleicht ist ein freier Ueberblick über die geschicht-
liche Entwicklung mehr Bedürfniss als im Studium der Religion.
Trotz alle dem, was geschrieben ist, um die Welt mit den niedri-
gem Theologien bekannt zu machen, tragen die landläufigen Vor-
stellungen von ihrer Stellung in der Geschichte und ihrer Bezie-
hung zu den Religionen höher stehender Nationen noch durchaus
ein mittelalterliches Gepräge. Es ist höchst interessant, ein Tage-
buch eines Missionärs mit Max Müllers Essays zu vergleichen und
den unduldsamen Hass und Spott, mit welchem enger, feindseliger
Eifer den Brahmanismus, Buddhismus und Zoroastrismus überhäuft,
neben die freisinnige Sympathie zu stellen, mit der tief und um-
fassend gebildete Leute jene alten und erhabenen Phasen des reli-
giösen Bewusstseins des Menschen betrachten; und ebenso wenig
stehen die Religionen wilder Stämme, weil sie im Vergleich mit
den grossen asiatischen Systemen roh und unentwickelt sein kön-
nen, zu tief, um unser Interesse oder gar unsere Achtung in An-
spruch nehmen zu können. Die Frage ist in Wirklichkeit die, ob
man sie versteht oder missversteht. Wenige, die einmal ernstlich
den Versuch machen werden, die Grundgesetze der Religionen der
Wilden zu bemeistern, werden sie je wieder lächerlich oder ihre
Kenntniss für die übrige Menschheit überflüssig finden. Weit ent-
fernt, dass die Anschauungen und Gebräuche derselben ein Kehricht-
Erstes Kapitel.
geführt. Es lässt sich nicht nur zuverlässig behaupten, dass diese
wichtige Kunst sich bei wilden Stämmen wirklich in einem rudi-
mentären Zustande findet, sondern hinreichende Beweise thun dar,
dass die Zählkunst sich durch vernunftmässige Erfindung von
dieser niedrigen Stufe bis zu der hohen, auf welcher wir selbst
sie besitzen, entwickelt hat. Die Prüfung der Mythologie, mit wel-
cher der erste Band schliesst, ist zum grössten Theil von einem
besonderen Gesichtspunkt angestellt, und zwar auf Grundlagen von
Zeugnissen, welche zu dem speciellen Zwecke gesammelt worden,
die Beziehungen zwischen den Mythen wilder Stämme und ihren
Analogis bei höher civilisirten Nationen zu verfolgen. Das Resul-
tat solcher Forschungen scheint zu beweisen, dass die frühesten
Mythenmacher bei wilden Horden auftraten und blühten, indem
sie so eine Kunst ins Leben riefen, welche ihre höher civilisirten
Nachfolger weiterbildeten, bis ihre Erzeugnisse in Aberglauben ver-
steinerten, irrthümlich als Geschichte betrachtet, in der Poesie zu-
gestutzt und ausgeputzt oder als Lug und Trug und Thorheit bei
Seite geworfen wurden.
Nirgends vielleicht ist ein freier Ueberblick über die geschicht-
liche Entwicklung mehr Bedürfniss als im Studium der Religion.
Trotz alle dem, was geschrieben ist, um die Welt mit den niedri-
gem Theologien bekannt zu machen, tragen die landläufigen Vor-
stellungen von ihrer Stellung in der Geschichte und ihrer Bezie-
hung zu den Religionen höher stehender Nationen noch durchaus
ein mittelalterliches Gepräge. Es ist höchst interessant, ein Tage-
buch eines Missionärs mit Max Müllers Essays zu vergleichen und
den unduldsamen Hass und Spott, mit welchem enger, feindseliger
Eifer den Brahmanismus, Buddhismus und Zoroastrismus überhäuft,
neben die freisinnige Sympathie zu stellen, mit der tief und um-
fassend gebildete Leute jene alten und erhabenen Phasen des reli-
giösen Bewusstseins des Menschen betrachten; und ebenso wenig
stehen die Religionen wilder Stämme, weil sie im Vergleich mit
den grossen asiatischen Systemen roh und unentwickelt sein kön-
nen, zu tief, um unser Interesse oder gar unsere Achtung in An-
spruch nehmen zu können. Die Frage ist in Wirklichkeit die, ob
man sie versteht oder missversteht. Wenige, die einmal ernstlich
den Versuch machen werden, die Grundgesetze der Religionen der
Wilden zu bemeistern, werden sie je wieder lächerlich oder ihre
Kenntniss für die übrige Menschheit überflüssig finden. Weit ent-
fernt, dass die Anschauungen und Gebräuche derselben ein Kehricht-