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Die Entwicklung der Cultur.

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gendes Beispiel dessen, was die ganze Geschichte beweist, möge
folgendes dienen: wenn wir die frühesten Zeiten des Christenthums
durchforschen, so treffen wir Männer, welche von der neuen Reli-
gion der Pflicht, Heiligkeit und Liebe durchdrungen sind, dennoch
aber zugleich im intellectuellen Leben herabsanken, und so die
eine Hälfte der Civilisation mit aller Macht ergriffen, während sie
die andere verächtlich bei Seite stiessen. Sei es auf hohen, sei
es auf niederen Stufen menschlichen Lebens, immer sehen wir,
dass nur selten ein Fortschritt der Cultur in unvermischtem Guten
erfolgt. Muth, Ehrlichkeit, Grossmuth sind Tugenden, welche we-
nigstens zeitweilig durch die Entwicklung eines Gefühles für den
Werth des Lebens und des Eigenthums leiden können. Der Wilde,
welcher manche Züge fremder Civilisation sich aneignet, verliert
nur zu oft seine roheren Tugenden, ohne ein Aequivalent zu er-
halten. Wenn auch der weisse Eindringling oder Colonist im Gan-
zen eine höhere sittliche Stufe repräsentirt als der Wilde, den er
zu belehren oder zu vernichten sucht, so repräsentirt er doch oft
seine Stufe sehr schlecht, und kann im besten Falle kaum bean-
spruchen, an die Stelle des Lebens, welches er vernichtet, ein in
jedem Punkte stärkeres, edleres und reineres zu setzen. Die Vor-
wärtsbewegung aus dem Zustande der Barbarei hat mehr denn eine
Eigenschaft des barbarischen Charakters hinter sich fallen lassen, auf
welche die modernen Culturmenschen mit Bedauern zurückblicken,
welche sie selbst durch allerhand nichtige Versuche wieder zu ge-
winnen streben, um den Lauf der Geschichte zu hemmen und die
Vergangenheit inmitten der Gegenwart herzustellen. Die Sklaverei
wie wir sie bei wilden und'barbarischen Völkern kennen, ist in
ihrer Weise derjenigen vorzuziehen, welche jahrhundertelang in
noch jüngst europäischen Colonien existirte. Das Verhältniss der
Geschlechter zu einander ist bei vielen wilden Stämmen gesun-
der als bei den reicheren Classen der mohamedanischen Welt.
Als oberste Regierungsbehörde stehen die wilden Räthe der Häupt-
linge und Aeltesten unbedingt höher als der ungezügelte Despotis-
mus, unter welchem so viele Culturvölker geseufzt haben. Die
Krik-Indianer antworteten auf Fragen in Betreff ihrer Religion, es
sei am Besten da, wo man keine Uebereinstimmung erzielen könne,
„jeden Menschen sein Canoe seinen eigenen Weg rudern zu las-
sen“, uud nach langen Jahren theologischer Zänkereien und Ver-
folgungen scheint sich die moderne Welt der Ansicht zuzuneigen,
dass diese Wilden nicht ganz im Unrecht waren.
 
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