Drittes Kapitel.
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und nicht ganz mit Unrecht als Aberglauben (superstition) be-
zeichnen; ja, man würde einem grossen Theile der Ueberlebsel
überhaupt diesen Namen geben. Das Wort „superstition“ selbst
drückt vielleicht in seinem ursprünglichen Sinne eines „Ueberstehens“
aus alten Zeiten, den Begriff des Ueberlebens aus. Aber jetzt
schliesst der Ausdruck „superstition“ einen Vorwurf in sich, und
wenn dieser Vorwurf auch immerhin oft Bruchstücke einer todten
niedrigem Cultur, welche in eine höhere lebende eingebettet liegen,
mit Recht trifft, so würde er doch in vielen Fällen zu strenge und
selbst ungerecht sein. Für die Zwecke des Ethnographen ist es
jedensfalls wünschenswert!), solch einen Ausdruck wie „Ueberlebsel“
einzuführen, um einfach die historische Thatsache zu bezeichnen,
welche das Wort „superstition“ jetzt nicht mehr ausdrückt1). Ausser-
dem sind noch als partielle Ueberlebsel jene zahlreichen Fälle zu
berücksichtigen, wo sich noch genügend von dem alten Gebrauch
erhalten hat, um seinen Ursprung noch erkennen zu können, ob-
gleich er sich beim Uebergange in eine neue Form den Umständen
so weit angepasst hat, dass er noch aus eigener Kraft seine
Stellung zu behaupten vermag.
So würde es nur selten berechtigt sein, wenn man die Kinder-
spiele des heutigen Europas als Aberglauben bezeichnen wollte,
obgleich viele derselben Ueberlebsel und zwar wirklich beachtens-
werthe sind. Wenn man die Spiele der Kinder und Erwachsenen mit
einem aufmerksamen Auge für die ethnologischen Lehren, welche
man aus ihnen ziehen kann, prüft, so ist eines der ersten Dinge,
das uns auffällt, wie viele von ihnen nur spielende Nachahmungen
der ernsten Beschäftigungen des Lebens sind. Wie die Kinder in
neuern civilisirten Zeiten im Spiele zu Mittag essen oder ausfahren
oder zur Kirche gehen, so macht es wilden Kindern besonders Freude,
die Beschäftigungen nachzuahmen, welche sie einige Jahre später
im Ernst treiben werden, und so sind ihre Spiele thatsächlich ihre
Lehrstunden. Die Eskimokinder unterhalten sich damit, dass sie
mit einem kleinen Bogen und Pfeilen nach einer Scheibe schiessen,
und kleine Schneehütten bauen, welche sie mit einem Stückchen
Lampendocht, den sie sich von der Mutter erbettelt haben, erleuchten2).
*) Im Deutschen fehlt meines Wissens auch ein Ausdruck hierfür und ich habe
deshalb superstition in den Text aufgenommen in der Bedeutung „Aberglaube“ während
ich für survival das vielleicht etwas unbeholfene „Ueberlebsel“ gebrauche. D. Ueb,
2) Klemm, „Cultur- Geschichte“, vol. II, p. 209.
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und nicht ganz mit Unrecht als Aberglauben (superstition) be-
zeichnen; ja, man würde einem grossen Theile der Ueberlebsel
überhaupt diesen Namen geben. Das Wort „superstition“ selbst
drückt vielleicht in seinem ursprünglichen Sinne eines „Ueberstehens“
aus alten Zeiten, den Begriff des Ueberlebens aus. Aber jetzt
schliesst der Ausdruck „superstition“ einen Vorwurf in sich, und
wenn dieser Vorwurf auch immerhin oft Bruchstücke einer todten
niedrigem Cultur, welche in eine höhere lebende eingebettet liegen,
mit Recht trifft, so würde er doch in vielen Fällen zu strenge und
selbst ungerecht sein. Für die Zwecke des Ethnographen ist es
jedensfalls wünschenswert!), solch einen Ausdruck wie „Ueberlebsel“
einzuführen, um einfach die historische Thatsache zu bezeichnen,
welche das Wort „superstition“ jetzt nicht mehr ausdrückt1). Ausser-
dem sind noch als partielle Ueberlebsel jene zahlreichen Fälle zu
berücksichtigen, wo sich noch genügend von dem alten Gebrauch
erhalten hat, um seinen Ursprung noch erkennen zu können, ob-
gleich er sich beim Uebergange in eine neue Form den Umständen
so weit angepasst hat, dass er noch aus eigener Kraft seine
Stellung zu behaupten vermag.
So würde es nur selten berechtigt sein, wenn man die Kinder-
spiele des heutigen Europas als Aberglauben bezeichnen wollte,
obgleich viele derselben Ueberlebsel und zwar wirklich beachtens-
werthe sind. Wenn man die Spiele der Kinder und Erwachsenen mit
einem aufmerksamen Auge für die ethnologischen Lehren, welche
man aus ihnen ziehen kann, prüft, so ist eines der ersten Dinge,
das uns auffällt, wie viele von ihnen nur spielende Nachahmungen
der ernsten Beschäftigungen des Lebens sind. Wie die Kinder in
neuern civilisirten Zeiten im Spiele zu Mittag essen oder ausfahren
oder zur Kirche gehen, so macht es wilden Kindern besonders Freude,
die Beschäftigungen nachzuahmen, welche sie einige Jahre später
im Ernst treiben werden, und so sind ihre Spiele thatsächlich ihre
Lehrstunden. Die Eskimokinder unterhalten sich damit, dass sie
mit einem kleinen Bogen und Pfeilen nach einer Scheibe schiessen,
und kleine Schneehütten bauen, welche sie mit einem Stückchen
Lampendocht, den sie sich von der Mutter erbettelt haben, erleuchten2).
*) Im Deutschen fehlt meines Wissens auch ein Ausdruck hierfür und ich habe
deshalb superstition in den Text aufgenommen in der Bedeutung „Aberglaube“ während
ich für survival das vielleicht etwas unbeholfene „Ueberlebsel“ gebrauche. D. Ueb,
2) Klemm, „Cultur- Geschichte“, vol. II, p. 209.