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Udberlebsel in der Cultur.

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und Gebräuchen vielmehr deshalb existiren, weil sie alt, als weil
sie gut sind. Handelt es sich nun um Fälle von schädlichem
Aberglauben, so dient der Beweis, dass dies Dinge sind, welche die
Wildheit zu erzeugen strebt, während die höhere Cultur sie zu
vernichten trachtet, als ein brauchbares Argument. Die blosse
historische Stellung einer Auschauung oder eines Gebrauches kann
eine Vermuthung über ihren Ursprung erwecken, welche zu einer
Vermuthung über ihre Authenticität wird. Der berühmte „Brief
aus Rom“ von Dr. Middleton zeigt solche Fälle. Er spricht von
dem Bilde der Diana in Ephesus, welches vom Himmel fiel und
damit den Ansprüchen des calabrischen Bildes des heiligen Domini-
ons Abbruch that, welches nach der frommen Ueberlieferung eben-
falls vom Himmel herabgebracht worden war. Er bemerkt, dass
wie das Blut des heiligen Januarius jetzt wunderbarer Weise ohne
Wärme schmelze, so vor Jahrhunderten die Priester der Gnatia
den Horaz auf seiner Reise nach Brundusium zu überzeugen suchten,
der Weihrauch in ihrem Tempel pflege in derselben Weise zu
schmelzen:
„ . . . . dehinc Gnatia lymphis
Iratis exstructa dedit risusque jocosque;
Dum flamma sine thura liquescere limine sacro,
Persuadere cupit: credat ludaeus Apella;
Non ego“ ').
So kann der Ethnograph bisweilen nicht ohne eine gewisse
boshafte Befriedigung zeigen, wie ein alberner und gefährlicher
Aberglaube gegen sich selbst zeugt.
Strebt man weiter, einen Einblick in die allgemeinen Gesetze
der geistigen Bewegung zu gewinnen, so bietet es uns einen
praktischen Vortheil, wenn wir im Stande sind, dieselben an an-
tiquarischen Ueberresten zu studiren, welche für unsere moderne
Zeit kein lebhaftes Interesse mehr haben, statt an jenen brennenden
Tagesfragen, bei denen wir mitten in der Gährung und unter den
grellsten Widersprüchen unsere eigene Handlungsweise bestimmen
sollen. Sollte ein Moralist oder ein Politiker verächtlich erklären, es
sei eitel, ohne Berücksichtigung der praktischen Momente die Dinge
zu studiren, so wird man im Allgemeinen finden, dass seine eigene
Behandlungsweise darin besteht, dass er von einem Parteistandpunkt
aus die Tagesfragen erörtert, ein zwar praktisches Verfahren,

*) C'onyers Middleton, ,,.A Letter from Rome“, 1729; Hör. Sat. I, v. 98.
 
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