Mythologie.
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und selbst dies hat noch nicht ganz ausgereicht. Mrs. Jameson theilt
in folgender Stelle einige merkwürdige Erfahrungen mit: „Ich weiss,
dass ich gar nicht mehr ganz klein war, als ich noch ebenso fest
an die leibhaftige Existenz von Lazarus und dem reichen Manne wie
an die von Johannes dem Täufer und Herodes glaubte; wo mir der
barmherzige Samariter so gut eine reale Persönlichkeit war,' wie
irgend einer der Apostel; wo ich aufrichtiges Mitleid mit jenen
armen thörichten Jungfrauen hatte, die vergessen hatten, Oel auf
ihre Lampen zu giessen, und mir — in meiner innersten Seele —
zu streng behandelt erschienen. Diesen Eindruck von der buch-
stäblichen Wahrheit der Gleichnisse habe ich seitdem bei vielen
Kindern und bei vielen ungebildeten, aber frommen Hörern und
Lesern der Bibel gefunden; und ich erinnere mich noch, dass
eine alte gute Frau, der ich die wahre Bedeutung des Wortes
Gleichniss auseinanderzusetzen suchte, und der ich sagte, dass die
Erzählung von dem verlorenen Sohne keine Thatsache sei, im höch-
sten Grade darüber entrüstet war — sie wüsste ganz gewiss, dass
Jesus seinen Jüngern nie Etwas gesagt haben würde, was nicht wahr
sei. So machte sie die Sache auf ihre eigene Weise ab, und
ich hielt es für das Beste, sie ruhig dabei zu lassen“ *)• Und diese
falschen Begriffe, kann man hinzufügen, beschränken sich nicht
auf die Armen und Unwissenden. St. Lazarus, der Schutzheilige
der Aussätzigen und ihrer Hospitäler, von dem der lazzbrone und
das lazzaretto ihren Namen haben, hat diese Eigenschaften offenbar
von dem Lazarus der Parabel.
Der Beweis von der Kraft und Zähigkeit der mythenbilden-
den Kraft, welchen uns die Verwandlung der Parabeln in Pseudo-
geschichten kennen gelehrt hat, mag diese Besprechung der
Mythologie beschliessen. In dem Gange derselben haben wir ge-
sehen, wie die Natur belebt und personificirt worden ist, wie sich
Sagen durch Uebertreibung und Verdrehung von Thatsachen ge-
bildet haben, wie Metaphern durch fälschliche buchstäbliche Auf-
fassung von Wörtern erstarrt sind, wie speculative Theorien und
noch wesenlosere Fictionen in angeblich durch die Tradition über-
kommene Ereignisse verwandelt sind, wie aus Mythen Wunder-
sagen werden, wie schwankende Phantasien durch Hinzufügung
von Namen und Ort einen bestimmten Charakter erhalten, wie
1) Jameson, „History of Our Lord in Art“, vol. I. p. 375.
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und selbst dies hat noch nicht ganz ausgereicht. Mrs. Jameson theilt
in folgender Stelle einige merkwürdige Erfahrungen mit: „Ich weiss,
dass ich gar nicht mehr ganz klein war, als ich noch ebenso fest
an die leibhaftige Existenz von Lazarus und dem reichen Manne wie
an die von Johannes dem Täufer und Herodes glaubte; wo mir der
barmherzige Samariter so gut eine reale Persönlichkeit war,' wie
irgend einer der Apostel; wo ich aufrichtiges Mitleid mit jenen
armen thörichten Jungfrauen hatte, die vergessen hatten, Oel auf
ihre Lampen zu giessen, und mir — in meiner innersten Seele —
zu streng behandelt erschienen. Diesen Eindruck von der buch-
stäblichen Wahrheit der Gleichnisse habe ich seitdem bei vielen
Kindern und bei vielen ungebildeten, aber frommen Hörern und
Lesern der Bibel gefunden; und ich erinnere mich noch, dass
eine alte gute Frau, der ich die wahre Bedeutung des Wortes
Gleichniss auseinanderzusetzen suchte, und der ich sagte, dass die
Erzählung von dem verlorenen Sohne keine Thatsache sei, im höch-
sten Grade darüber entrüstet war — sie wüsste ganz gewiss, dass
Jesus seinen Jüngern nie Etwas gesagt haben würde, was nicht wahr
sei. So machte sie die Sache auf ihre eigene Weise ab, und
ich hielt es für das Beste, sie ruhig dabei zu lassen“ *)• Und diese
falschen Begriffe, kann man hinzufügen, beschränken sich nicht
auf die Armen und Unwissenden. St. Lazarus, der Schutzheilige
der Aussätzigen und ihrer Hospitäler, von dem der lazzbrone und
das lazzaretto ihren Namen haben, hat diese Eigenschaften offenbar
von dem Lazarus der Parabel.
Der Beweis von der Kraft und Zähigkeit der mythenbilden-
den Kraft, welchen uns die Verwandlung der Parabeln in Pseudo-
geschichten kennen gelehrt hat, mag diese Besprechung der
Mythologie beschliessen. In dem Gange derselben haben wir ge-
sehen, wie die Natur belebt und personificirt worden ist, wie sich
Sagen durch Uebertreibung und Verdrehung von Thatsachen ge-
bildet haben, wie Metaphern durch fälschliche buchstäbliche Auf-
fassung von Wörtern erstarrt sind, wie speculative Theorien und
noch wesenlosere Fictionen in angeblich durch die Tradition über-
kommene Ereignisse verwandelt sind, wie aus Mythen Wunder-
sagen werden, wie schwankende Phantasien durch Hinzufügung
von Namen und Ort einen bestimmten Charakter erhalten, wie
1) Jameson, „History of Our Lord in Art“, vol. I. p. 375.