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Zehntes Kapitel.

mythische Vorgänge der Moral dienen müssen, und wie unaufhör-
lich Geschichten zur Geschichte herankrystallisiren. Die Betrach-
tung dieser verwickelten und weitläufigen Processe hat uns immer
mehr und mehr zwei Principien der mythologischen Wissenschaft
zur Erkenntniss gebracht. Das erste ist, dass die Sage, bei ge-
höriger Classification, eine Regelmässigkeit in der Entwicklung
offenbart, die bei Annahme einer motivlos handelnden Phanta-
sie gänzlich unerklärlich ist, und die man nur bestimmten Bil-
dungsgesetzen zuschreiben kann, nach denen jede Erzählung, sei
sie alt oder neu, aus einem ganz bestimmten Ursprünge und
einem hinreichenden Grunde entstanden ist. Diese Entwicklung ist
in der That so gleichmässig, dass man die Sage als ein organisches
Erzeugniss der gesammten Menschheit behandeln kann, in welchem
individuelle, nationale, ja selbst Rassenunterschiede den allgemeinen
Eigenschaften des menschlichen Geistes gegenüber eine untergeord-
nete Stellung einnehmen. Das zweite Princip betrifft das Verhält-
niss der Sage zur Geschichte. Es ist zwar wahr, dass die Hoff-
nung, in der Sage verstümmelte und verborgene Traditionen von
wirklichen Ereignissen finden zu können, worauf ja die älteren
mythologischen Untersuchungen hauptsächlich gerichtet waren,
immer mehr schwindet, je mehr sich unsere Kenntnisse erweitern.
Und die wenigen Bruchstücke von wirklicher Zeitgeschichte, die
man in dem mythischen Gebäude eingelagert gefunden hat, sind
meistens in einem so mangelhaften Zustande, dass sie, statt Licht
auf die Geschichte zu werfen, selbst von der Geschichte erst Licht er-
halten müssen. Und doch haben die, welche die poetische Sage
geschaffen und uns überliefert haben, unbewusst und gleichsam
gegen ihren eigenen Willen uns darin Massen von vortrefflichen histo-
rischen Zeugnissen erhalten. Sie haben ihr eigenes Erbtheil an
Gedanken und Wörtern in das mythische Leben von Göttern und
Heroen gegossen, sie haben uns in dem Bau ihrer Sagen ihre
eigene Geistesthätigkeit offenbart, sie haben uns Kunde gebracht
von den Künsten und Sitten, der Philosophie und Religion ihrer
eigenen Zeiten, von Zeiten, von denen die formale Geschichte oft
nicht einmal die Erinnerung bewahrt hat. Die Sage ist die Ge-
schichte ihrer Verfasser, nicht die' ihres Gegenstandes; sie schil-
dert uns das Leben nicht von übermenschlichen Heroen, sondern
von poetischen Nationen.
 
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