Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
in der Wiedergabe des antiken Vorbiides prinzipiell
unterschieden von derjenigen der mittelbyzantinischen
Handschriften des 9. und 10. Jahrhunderts, wie dem Va-
tikanischen Cosmas, dem Pariser Psalter und der Vatika-
nischen Bibel, in denen die Maler einzelne Bildteile wie
Versatzstücke behandeln, um mit ihnen eine neue Bild-
einheit zu sAaffen. Im Rotulus sind hingegen alle Gruppen
unverrückbar an der ihnen im Zusammenhang des Ganzen
angewiesenen Stelle.
Weisen die Kompositionsprinzipien in die frühbyzan-
tinische Zeit, in welche die meisten Forscher den Rotulus
datieren, so führt die Stilvergleichung allerdings zu einem
anderen Ergebnis. Die schlanken, beweglichen, sehr leicht-
füßig schreitenden Gestalten, die hartbrüchige Wieder-
gabe der Gewandfalten weisen stilistische Beziehungen
zur Vatikanischen Bibel auf, und zwar zu jener Gruppe
von Bildern, die mit einer Psaltervorlage in Zusammen-
hang gebracht wurde (vgl. S. 41 f.). So läßt sich beispiels-
weise der Henker des Königs von Ai (Abb. 301) mit der
Gestalt eines erstaunten Israeliten des Sinaibildes (vgl.
Abb. 283) vergleichen in den flaschenhalsartig sich ver-
schmälernden Unterschenkeln, in der auf knappe, mar-
kante Linien angelegten Gewandbehandlung, vor allem
aber dem anorganisch auf der Schulter aufgesetzten Kopf
mit derselben gleichmäßig gestrichenen lockeren Haar-
behandlung, dem etwas unruhig flackernden Blick u. a. m.
Oder man stelle etwa den betenden Josua"" neben den
von Samuel gesalbten David der Vatikanischen Bibel"'":
dieselbe unbestimmte Beinstellung, die langen Unterschenkel
mit der scharfen Markierung der Kniescheibe, die spröde
Glockenform der Tunika, die unstoffliche Härte des um-
geworfenen Mäntelchens. Ebenso lassen sich zu gewissen
Figuren des Pariser Psalters Parallelen aufweisen, und
zwar zu jenen Bildern, die noch nicht den durch die
Renaissance eindringenden plastischeren Stil zeigen. Der
Moses in der Darstellung des Durchzugs durchs Rote
Meer"" ist der ausgesprochenste Typus dieser traditionellen
Richtung, dessen hartbrüchiger Gewandstil sich in manchen
Zügen mit den Bundesladenträgern des Rotulus"" ver-
gleichen läßt, während der schwärmerische Blick und die
lockere Haarbehandlung dieses Moses eine weitgehende
Übereinstimmung mit dem seinem Heere voranschreitenden
Josua aufweist"". Auch die bei den Rotulus-Figuren be-
sonders häufigen flatternden, in sAarfem Zickzack siA
brechenden Mäntelchen"" haben im Psalter Parallelen"".
Diese Vergleichungen mögen genügen, um den engen Stil-
zusammenhang des Rotulus mit Bibel und Psalter zu
belegen und ihn mit diesen Handschriften zusammen in
die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts zu datieren in deut-
licher UntersAeidung von dem Stil des 9. Jahrhunderts,
Facs., Taf. 10.
273 Facs. (Lit. s. Anm. 253) Taf. 12.
23° Omont, Facs. Min-, Taf. 9.
Facs-, Taf. 2 u. 3.
233 Facs., Taf. 1.
23° Z. B. Die Gesandten des Königs von Ai, Facs., Taf. 6.
233 Omont, Facs. Min., Taf. 4. Mäntel von David und Goliath.

wie er uns im Vatikanischen Cosmas und im Pariser
Gregor entgegentritt. Man könnte geradezu den Rotulus
als einen Auftakt zur Renaissancebewegung ansehen. Das
Antikische, das in der atmosphärischen Landschaft und
in der formalen Eleganz des Figurenstils sich zu erkennen
gibt und durch die Anlehnung an einen in hellenistischer
Tradition stehenden frühchristlichen Josua-Zyklus zu er-
klären ist, mochte die Anregung gegeben haben, sich in
der Folgezeit unmittelbar an die profane Antike selbst
zu wenden, um deren reiAen Typenschatz der Aristlichen
Malerei nutzbar zu machen. Es wäre dies eine der Elfen-
beinplastik parallel laufende Entwicklung, wo in der
Gruppe der sogenannten Rosettenkästen die frühesten
Schöpfungen genaue Kopien des Josua-Rotulus sind mit
allen Stilmerkmalen des 10. Jahrhunderts"", während in
einer zweiten Phase auf die profane Antike zurückgegriffen
wird und die meist sehr mißverstandenen antiken Figürchen
unter die Josua-Gestalten gemisAt werden"".
Für die Zuweisung des Rotulus in die mittel- und nicht
in die frühbyzantinische Zeit lassen sich auch indirekte Stil-
kriterien anführen. Vergleichbare Handschriften existieren
zwar keine, aber als Ersatz für sie können Silberschalen
des 6. Jahrhunderts herangezogen werden, wie z. B. der
auf Cypern gefundene Teller mit dem David- und Goliath-
Kampf"", der offensichtlich auf ein streifenförmig kompo-
niertes Miniaturvorbild zurückgeht"" und dessen Gestalten
typenmäßig aufs engste mit denen des Rotulus Zusammen-
hängen. In der Haltung der Krieger, in der Rüstung,
Helmform und vielen Einzelheiten sind weitgehende Über-
einstimmungen zu finden, aus denen gefolgert werden
kann, daß Silberteller und Miniatur demselben Kunst-
kreis angehören. Aber gerade bei einer solchen Vergleichung
derselben Typen, wie zum Beispiel der Krieger auf dem
Teller mit denen des Rotulus, läßt sich der zeitliche Ab-
stand beider Werke ermessen. Wie organisch ist der
Körperbau der Tellerfigur, wie muskulös und schwellend
sind die Formen, wie erdenfest stehen sie auf dem Boden,
wie schmiegsam und ohne jede Härte legt sich das Ge-
wand an. Die flatternden Mäntelchen spreizen sich nicht im
spröden Zickzack ab, sondern sind in weichen Bauschungen
gebläht. Wie anders dagegen die schmächtigen, des Ge-
fühls für Körperschwere entbehrenden Gestalten des
Rotulus, wie mangelhaft die Erfassung der organischen
Struktur, wie spröde und hart alle Einzelheiten. Kurzum
alle die Merkmale, die den Rotulus von dem Silberteller
trennen, sind andererseits dieselben, die ihn mit der Vati-
kanischen Bibel und dem Pariser Psalter verbinden. Der
Josua-Rotulus gehört somit in die unmittelbare zeitliche
und vermutlich auch lokale Nähe dieser beiden Hand-
schriften und in den Konstantinopeler Wirkungsbereich,
23° Goldschmidt-Weitzmann, Byzantinische Elfenbein-Skulpturen,
Bd. I, 1930, Taf. I, 1-4.
23° Goldschmidt-Weitzmann, a. O., Bd. I, Taf. IX, 21a.
237 Strzygowski, Aitai-Iran, 1917, Taf. 6.
233 yyie eng das Verhältnis von Miniatur und Kleinkunst war,
beweisen u. a. die oben erwähnten genauen Kopien des Rotulus in
Elfenbein.

45
 
Annotationen