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Ankel, Paul; Werckmeister, Karl [Hrsg.]
Das Neunzehnte Jahrhundert in Bildnissen (Band 5) — Berlin: Kunstverlag der Photographischen Gesellschaft, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.63696#0039
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Siege verhülfen, die bayrische Metropole aber für
lange zum Mittelpunkt des modernen Musiklebens
erhoben. Die Eingriffe Bülows in die verrotteten
Zustände der Opernbühne, noch mehr aber seine
Verdienste um das Emporblühen der Königlichen
Musikschule, deren Reorganisation ihm übertragen
worden war, lassen es tief bedauern, dass seiner
Wirksamkeit schon 1869 ein so jähes Ende bereitet
wurde. Der übermenschlichen Arbeitslast, die auf
ihm ruhte, waren selbst seine Kräfte auf die Dauer
nicht gewachsen, und zwar um so weniger, als er
mit offenen und geheimen Intriguen der Gegen-
partei beständig zu kämpfen hatte. Den schwersten
Stoss aber gab ihm das Familiendrama, in das sich
der Ahnungslose urplötzlich verwickelt sah. Seine
Gattin trennte sich von ihm im Frühling des ge-
nannten Jahres und begab sich mit den Kindern in
die Schweiz, um bald darauf eine neue Ehe mit
Richard Wagner einzugehen.
Durch die Münchener Katastrophe ist in das
Leben des Mannes, das lässt sich nicht leugnen,
ein unheilbarer Bruch gekommen; die Folgen hat
er wohl niemals ganz überwunden. Zunächst zog
er sich nach Florenz zurück, um Ruhe und Ge-
sundung zu suchen; dann stürzte er sich in eine
fieberhafte Thätigkeit. 1872 verliess er Italien, nicht
ohne für deutsche Musik auch im fremden Lande
segensreich gewirkt zu haben, und durchquerte
sieben Jahre lang Europa und Amerika als
wandernder Pianist und Dirigent, gleich bewundert
und enthusiastisch gefeiert von der neuen wie von
der alten Welt. Vorübergehend bekleidete er den
Posten eines Opernkapellmeisters in Hannover; im
Herbste 1880 fand er dann eine bleibende Heimstätte
in dem kunstsinnigen Meiningen. Als Intendant der
herzoglichen Hofmusik war es ihm noch einmal
vergönnt, wahre Wunder zu wirken. Die kleine, an
sich unbedeutende Kapelle erzog er zu einer vor-
bildlichen Körperschaft, mit der er Deutschland im
Triumph durchreisen konnte, und an ihrer Spitze
schuf er einen fast neuen Orchesterstil. So klar
zergliedert, so ausdrucksvoll und stilgemäss hatte man
symphonisch noch nicht musizieren hören; alle Vor-
züge des Solospiels schienen mit Zauberkraft auf die
Massen übertragen. Bülows Art zu dirigieren rief
geradezu eine neue Kapellmeisterschule ins Leben,
dem Laien aber eröffnete sie zum ersten Male
das rechte Verständnis für so manches Meisterwerk
von Bach und Beethoven bis zu Brahms und
Wagner. Denn jetzt galt es nicht mehr, einer
einzelnen Richtung zu dienen, jetzt kannte Bülow
nur noch den Unterschied zwischen guter und

schlechter Musik. Mit gleicher Liebe umschloss er
alles wahrhaft Schöne, wenn auch Beethoven, der
nächst Wagner, und gerade durch Wagner, seinem
Herzen von Jugend auf immer am nächsten ge-
standen hatte, seine höchste Gottheit blieb. Mehr als
ein jüngerer- Komponist wurde von ihm erst zur
Geltung gebracht, wie er denn auch jede deutsch-
chauvinistische Regung von sich gethan hatte. Dafür
genoss er nun auch in allen Lagern die gleiche Ver-
ehrung, die gleiche Anerkennung seiner menschlichen
und künstlerischen Bedeutung. Mag sich mancher
an dem sanguinischen Temperament gestossen haben,
das ihn mit dem Taktstock häufig auch das Wort
ergreifen liess, mag er seiner Meinung zuweilen
einen allzubarocken Ausdruck gegeben haben — das
alles war bei Bülow durchaus originell, und keiner
dieser Züge dürfte im Gesamtbild des Mannes fehlen.
Und wo er übers Ziel schoss, gab er gewöhnlich nur
sich selber preis; der Nutzen kam stets einer Sache zu
gute. Um dieser vornehmen, echt ritterlichen Selbst-
losigkeit willen erscheint uns der grosse „Kapell-
meister des deutschen Volkes“ nicht nur als ein be-
wunderungswürdiger, sondern auch als ein liebens-
werter Charakter.
Was Bülow im kleinen erreicht hatte, das wollte
er nun auch mit reicheren Mitteln immer weiter
ausbauen. Er legte 1885 sein Amt in Meiningen
nieder und trat — gelegentliche Abstecher auf das
Lehr- und Pianistengebiet nicht gerechnet — nur noch
an der Spitze der grossen Philharmonischen Orchester
von Petersburg, Berlin und Hamburg auf. Seit 1888
wohnte Bülow in Hamburg, wo er auch noch einmal
mehrere Opernvorstellungen dirigierte. Das Haupt-
feld seiner Thätigkeit aber in den letzten Jahren
war Berlin. Hier nahm er im öffentlichen Kunst-
leben eine Stellung ein, wie kaum ein anderer
Musiker vor ihm. Doch das Ende kam schneller, als
man ahnen konnte. Nur seine ungewöhnliche Willens-
kraft hatte den völlig Erschöpften noch aufrecht-
erhalten. In Kairo, wohin ihn ein tückisch schlei-
chendes Gehirnübel verscheuchte, schloss er nach
unsäglichen Leiden am 12. Februar 1894 die Augen.
Bülows Witwe, die geistvolle ehemalige Hof-
schauspielerin Marie Schanzer, die treue Gefährtin
seiner Triumph- und Leidensjahre, mit der er sich
in zweiter Ehe im Jahre 1882 in Meiningen ver-
bunden hatte, hat in den gesammelten Briefen und
Schriften Bülows dem grossen Toten ein würdiges
Denkmal errichtet, dem Volk der Musiker aber einen
köstlichen Schatz geschenkt, reich an wertvollen
Erinnerungen aus einem wichtigen, stürmisch be-
wegten Zeitabschnitt. Leopold Schmidt.

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