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Ankel, Paul; Werckmeister, Karl [Hrsg.]
Das Neunzehnte Jahrhundert in Bildnissen (Band 5) — Berlin: Kunstverlag der Photographischen Gesellschaft, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.63696#0067
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— er wirkt durchs Auge mehr, weniger durchs Ohr,
auf unsere Seele. Es giebt einen besonders merk-
würdigen und charakteristischen Beweis für unsere
Behauptung: jene holden Verse, die in „Hanneies
Himmelfahrt“ die Engel sprechen, sind nicht rein
lyrisch im gewöhnlichen Sinne; es strömt keine
Seele wie in Tönen aus, sondern Bild reiht sich an
Bild, z. B.:
Das goldene Brot auf den Aeckern,
Dir wollt’ es den Hunger nicht stillen,
Die Milch der weidenden Rinder,
Dir schäumte sie nicht in den Krug.
Und noch charakteristischer ist die Schlussstrophe:
Es leuchtet von unsern Füssen
Der grüne Schein unsrer Heimat;
Es blitzen im Grund unsrer Augen
Die Zinnen der ewigen Stadt.
Gerade in dieser Fähigkeit zu plastischer Heraus-
arbeitung der Charaktere und Situationen liegt die
bezwingende Bühnenwirksamkeit; und jene Fähigkeit
mit ihrer Wirkung verdeckt nahezu völlig, dass
Gerhart Hauptmann eigentlich gar kein Dramatiker
im tiefsten und reinsten Sinne dramatischer Kunst ist.
Das Wesen dramatischer Kunst ist Handlung.
Das ist eine bekannte, allzu bekannte, aber darum
doch wahre Behauptung. Handlung nun kann in
ihrem letzten und tiefsten Grunde auf nichts anderem
beruhen, als auf einer Zwiespältigkeit und Gegen-
sätzlichkeit des Weltprozesses.“ Es ist der ewig und
überall wiederkehrende Gegensatz zwischen dem Ein
und dem All. In der geschichtlichen Entwickelung der
Völker zeigt sich das als Gegensatz zwischen Indivi-
duum und Staat, auf die Spitze getrieben im Anarchis-
mus und Kommunismus. In der dramatischen Kunstist
es stets das Gegenspiel und das Gegenwirken zwischen
der Einzelpersönlichkeit und irgend einer Kollektiv-
macht, die — in verschiedenen Zeitaltern — bald
Schicksal, bald sittliche Weltordnung oder sonstwie
heisst. Solchen Gegensatz fühlt der geborene
Dramatiker auch in sich von vornherein wirksam,
und demgemäss sieht er das ganze Leben in der
Fülle aller Geschehnisse als Bewegung im Gegensatz.
Hier nun wird der schwache Punkt in Hauptmanns
dramatischem Können sichtbar. Für diesen natura-
listischen Bühnendichter verengt sich das welt-
umschliessende Schicksal zum zeitumspannenden
sozialen Milieu. Und ihm gegenüber steht nicht
der Held, der dem Schicksal die Stirne bietet und

die Wage hält, sondern die schwache, verlorene
Einzelpersönlichkeit, die mit dem Milieu ringt und
in den Verhältnissen sich nicht zurechtfindet. So
schwach sind Johannes Vockerath, Crampton, Hannele
und Florian Geyer; „denn auch der kunnt nit recht
spielen, und so schlug man ihm die Laute am Kopfe
entzwei“. Und ebenso schwach sind auch Schluck,
der Fuhrmann Henschel und nicht am wenigsten
der Glockengiesser Heinrich,
„Der Sonne ausgesetztes Kind,
Das heim verlangt“.
Vereinigt aber ist alles, was Hauptmann kann
und nicht kann in den „Webern“, wo die Einzel-
persönlichkeit in eine Zahl ärmster, gedrücktester,
schwächster Wesen aufgelöst ist, die ihr soziales
Schicksal erleiden. „Die Weber“ bedeuten den
Höhepunkt naturalistischer Kunst und sind zugleich
das am meisten gelungene und charakteristische
Werk, das der Klassiker des Naturalismus geschaffen
hat. Die Unzulänglichkeit des Naturalismus liegt
in der Enge der Weltanschauung, in dem Verzicht
auf ein Weltschicksal, an dessen Stelle das nur einen
geringen Zeitraum umspannende und kennzeichnende
Milieu meistens sozialer Art tritt; parallel dazu steht
die Unfähigkeit, eine heldenhafte Persönlichkeit von
überragender Grösse ihr Schicksal erfahren zu lassen.
Es soll nicht verkannt werden und es sei als Be-
hauptung wenigstens hier ausgesprochen, dass des
Dichters beide letzten Werke „Fuhrmann Henschel“
und „Schluck und Jau“ Anzeichen eines erweiterten
Gesichtskreises und einer umfassenderen Welt-
anschauung verraten. Es ist nicht ohne innerste
Bedeutung, dass Fuhrmann Henschel schliesslich
wähnt, mit dem durch weisse, eilende Wolken ge-
spenstisch leuchtenden Mondschein schimmere so
etwas wie ein geheimnisvolles Weltschicksal durch
das geöffnete Fenster in seine Kellerwohnung hin-
ein. In wiefern Gerhart Hauptmanns dramatische
Kunst sich in solcher Richtung zugleich zu vertiefen
und erhöhen vermag, muss noch eine Frage bleiben.
So wäre es denn auch vermessen, dem Dichter die
Unsterblichkeit in den Menschenherzen künftiger
Generationen heute schon mit Sicherheit zuzu-
sprechen. Der Unsterblichkeit in der Litteratur-
geschichte als Klassiker des Naturalismus aber kann
der Dichter der „Weber“ jetzt schon vollkommen
gewiss sein. Max Lorenz.

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