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309

Allein die Macht der Sitte ist diejmige unwiltkürlicher
und nnbewußter Nothwendigkeit. Prüsen wir aber unser Urtheil
über den Werth der Gesellschasten, so sinden wir, daß wir die-
selben um so höher schätzen, je mehr in ihnen dieser ihr gemein-
samer geistiger Lebensgehalt zum bewußten Ausdruck und zur
Herrschaft in ihrem ganzen äußeren Zusammenleben gekommen
ist. Denn das klare Bewußtsein und die äußere Ausprägung
dessen, was sür alle gilt, ist die sichere Gewähr sür die Herr-
schaft desselben ttber die Willkür der individuellen Thätigkeiten,
welche stets mit der Zeit sich gegen jeneS ursprüngliche Gesammt-
bewußtsein auszulehnen beginnt. Wenn es in der entwickelten
Gesellschast etwas Allgemeingiltiges geben soll, so muß jener
dunkle Gesammthintergrund aller einzelnen geistigen Existenzen
in diesen zum Bewußtsein und zur Darstellung ür ihren gemein-
samen äußeren Lebensverhältnissen kommen.

Darum ist es die Ausgäbe jeder Gesellschast, ihren gei-
stigen Gehalt, der als natürliche Gemeinsamkeit dem Seelen-
leben aller ihrer Mitglieder zu Grunde liegt, zum klaren Be-
wußtsein zu bringen und nach ihm den Zusammenhang ihres
äußeren Lebens zu gestalten. Die allseitige Lösung dieser Auf-
gabe nennen wir das Cultursystem der betresfenden Gesell-
schast, und so dürsen wir sagen: die Bestimmuug jeder Gesell-
schast ist die Schaffung ihres Cultursystems.

Diese Ausgabe gilt sür alle Gesellschaften: aber weil einer
jeden durch ihre natürlichen und historischen Bedingungen ihr
Gesammtbewußtsein und die Möglichkeit von dessen Ausbildung
und Ausprägung vorgeschricben ist, so sind von der einen Ge-
sellschast zur anderen die Lesonderen Vvrstellungen, Gesühle und
Willensthätigkeiten, in denen sie ihr Cultursystem darstellen
müssen, verschiedene. Erst hier übersieht man, wo das histo-
rische Element wurzelt, das in den besonderen Borschristen der
Moral unaustilgbar ist.
 
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