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Windelband, Wilhelm; Günther, Siegmund
Geschichte der antiken Naturwissenschaft und Philosophie — Nördlingen, 1888

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https://doi.org/10.11588/diglit.23232#0299
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B. Die hellenistisch-römische Philosophie. (§ 44.)

285

An die praktische schliesst sich bei Aristoteles die poietische Phi-
losophie, die Wissenschaft von der schöpferischen Thätigkeit des Menschen.
Aber diese ist in den erhaltenen Lehrschriften nur nach der Seite der
schönen Kunst und insbesondere der Dichtung in der „Poetik" ausgeführt.

J. Beenays, Zwei Abhandlungen über die aristotelische Theorie des Dramas (Berlin
1880). — A. Döring, Die Kunstlehre des Aristoteles (Jena 1876). — Die nähere sehr
umfangreiche Litteratur bei Döring, p. 263 ff. Ueberweg-Heikze I7, 225.

Alle Kunst ist nach Aristoteles Nachahmung, und die verschiedenen
Künste unterscheiden sich deshalb teils nach den Mitteln, teils nach den
Gegenständen der Nachahmung.1) Die Mittel' der Dichtung sind Rede,
Rhythmus und Harmonie;2) ihre Gegenstände die Menschen und ihre Hand-
lungen.3) Die Tragödie (auf deren Analyse sich das erhaltene Bruchstück
der Poetik wesentlich beschränkt), stellt in schöner Sprache eine bedeutende
und abgeschlossene Handlung in unmittelbarer Ausführung durch ihre ver-
schiedenen Träger dar.4)

Der Zweck der Kunst aber ist, die Affekte des Menschen in einer
solchen Weise zu erregen, dass er durch eben diese Erregung und Steige-
rung von der Gewalt derselben befreit und gereinigt wird (xd&aoaig);
und dies ist nur dadurch möglich, dass die Kunst nicht die empirische
Wirklichkeit, sondern das was an sich möglich sein könnte,5) zur Dar-
stellung bringt, dass sie den Gegenstand in das Allgemeine erhebt.

Die ethische Wirkung der Tragödie, die Reinigung von den Affekten (mag nun
xäd-aQffig dabei in medizinischer, religiöser oder anderer Analogie gebraucht sein) geht
somit Hand in Hand mit ihrer intellektualistischen Bedeutung: die Kunst stellt, der Philo-
sophie ähnlich (vgl. Poet. 9), die Wirklichkeit in ihrer ideellen Reinheit dar, sie steht über
der blossen Wiedergabe des Einzelnen, wie sie die laroQia bietet. Diese Auffassung der
allgemeinen Bedeutung vernichtet die Affekte der Furcht und des Mitleids, durch welche
die Wirkung der Tragödie hindurchgehen muss.

Der lange Streit über den Sinn der aristotelischen Definition der Tragödie hat sich
mehr und mehr dahin entschieden, dass die Gesundung, welche die xd'hcQaig mit sich
bringen soll, auf diesem Idealismus der ästhetischen AVirkung, dieser Erhebung in die An-
schauung des Allgemeinen beruht.

So erfüllt, den grössten dichterischen Leistungen seiner Nation gegenüber, Aristoteles
auch auf diesem Gebiete die Aufgabe seiner Philosophie, die keine andere ist, als — das
Selbstbewusstsein der hellenischen Kultur.

B. Die hellenistisch-römische Philosophie.

44. Wenn sich in der Philosophie des Aristoteles das Wesen des
Griechentums zu seinem begrifflichen Ausdruck verdichtet hatte, so erschien
derselbe auf der Schwelle des Unterganges: er war das Vermächtnis des
sterbenden Griechentums an alle folgenden Geschlechter der Menschheit.

Die innere Zersetzung, welche die geistige Substanz des Griechen-
volkes mit der Epoche der Aufklärung ergriffen hatte, war in immer
grösserem Umfange fortgeschritten und führte auch zum äusseren Zerfall.
Schon seit dem Ausgange des peloponnesischen Krieges, der die Lebens-

4) Die berühmte, vielumstrittene Defini-
tion der Tragödie steht Poet. 6.

5) out uv yivoLxo', Poet. 9,
 
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