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60 Die Kunst Klbrecht Dürers

allen Zeiten ist es nun so gewesen, daß das Neue, bruchstückweise ersaßt,
zunächst zersetzend wirkt, das Jnteresse wendet sich dem einzelnen zu und
das Gesühl für das Ganze wird schwächer. Jn der Hnuptsigur hat Dürer
das Bedürfnis gehabt, das Leidende im Ausdruck stärker herauszuarbeiten
und die Figur nach ihrer mechanischen Funktion völliger aufzuklären. Der
Schongauersche Christus trägt nicht, erst Dürer gibt den gestrnsften Stützarm.
Die zwcite Hand scheint bei Schongauer ganz verloren gegangen zu fein, nach
langem Suchen erst kann man unten irgendwo ein paar Finger finden, Dürer
läßt den Arm hochgreifen und sichtbarer den Kreuzbalken umschlingen. Doch
ist die Lösung noch keine vollkommene, das Motiv ist nicht in der Figur
vorbereitet und wird darum leicht ganz übersehn. Am wirkungsvollstcn ist
die Behandlung des Kopfes: es ist für den Ausdruck wichtig, daß die Drehung
keine leichte und flüchtige fei, sondern sich mühsam und schwer vollzieht.
Schongauer läßt den Vorgang in den Halsgelenken nur erraten, während
die Darstellung Dürers gerade hier einsetzt und dadurch den Borgang erst
erlebbar macht. Auch das ist aber nur ein Anfang. Erst später findet er die
abschließende Lösung: daß der Blick über die emporgedrückte Schulter des Stütz-
armes hinübergehen müße. So ist es gehalten in der kleinen Holzschnittpassion.

Die Kreuzigung. — Das ist ein Stück von grandioser Empfindung. Der
Blick richtet sich zuerst auf Maria, die man von älteren Darstellungen her
kennt als die ohnmächtig zusamnienbrechende, der die Freunde zu Hilfe kommen.
Hier ist sie bereits zusammengebrochen; aber nur körperlich, nicht im Bewußt-
sein. Man sieht, wie sie zu Boden geglittcn ist, nber noch will sie die Haltung
bewahren. Sie kann nicht mehr blicken, die Lider sind geschlossen, aber wie sie
den Kopf hält und wie die Hände bewegt sind, heißt, daß fie bis zum äußersten
der Schwäche Widerstand leistet. Hier ist man denn wirklich mit einem Schritt
weit hinaus über die Rührseligkeit des 15. Jahrhunderts. Die Begleitfiguren
geben den Abstand der gewöhnlichen Menschheit. Jn Johannes die übliche
Ratlosigkeit. Magdalena ist die einzige, die stehend den Blick zu Christus
emporführt.

Dieser hat ganz die stracke Form wie sie schon früher gelegentlich vorkommt,
im Gegensatz zu einer anderen, mehr auf das Erbarmungswürdige hinzielenden
Darstellung, die das Geknickte, namentlich in den Knieen, zur Anschauung bringt.
Man würde übel interpretieren, wenn man auf das Motiv der Passionsspiele
Zurückgreifen wollte, dem Herrn grausam die Glieder zu strecken, um Fuß
und Arm an das vorgebohrte Nagelloch heranzubringen; die Behandlung hat
im Gegenteil etwas Sieghastes. Arme und Beine sind strafs gespannt, aber
man empsindet diese Straffung wie eine Kraftäußerung. Und dazu paßt in
der Stimmung die prachtvoll slatternde Fahne des Lendentuches.
 
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