Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Das Marienleben

i

ir treten ein in die gewöhnliche Welt. Die ungeheuerlichen Gestaltungen

der Apokalypse bleiben zurück, die hohe Spannung der Passion löst sich.

Das „Marienleben", wenn es auch das Tragische nicht ganz übergeht, ist
eine sreundlich-anmutige Geschichte, breit erzählt, mit behaglichem Verweilen
und mit osfenbarer Freude an der Schilderung als solcher. Die Wirklich-
keit machte ihr Recht geltend, Dürer wollte einmal in der Breite der Welt
sich ergehen. Nicht einzelne Helden erscheinen aus der Bühne, sondern das Volk,
in der Mannigfaltigkeit feiner Tppen. Vielerlei Bauwerk: fremdländische
Hallen, der Tempelvorhof, Hütten und Burghöfe, ruinenhaftes Gewölbwerk
und merkwürdige Binnenräume. Dann Landschaften mit dem Reichtum der
nahen Dinge und heiteren Fernen; Heimisches und Phantastisch-Fremdes neben-
einander. Und im Kostüm dieselbe Vermischung.

Es ist die gleiche Art von unkonsequentem Naturalismus, die auch das
italienische Quattrocento beherrscht. Man will nicht das Alltägliche sehen,
sondern etwas, was darüber hinausgeht in Pracht und Merkwürdigkeit.
Die berühmte Stube mit dem Wochenbett der Maria ist in allem einzelnen
echt und doch als Ganzes nicht der Wirklichkeit entsprechend. Man würde
sich sehr täuschen, wenn man meinte, Dürer habe hier einmal das Marien-
leben deutsch erzählen wollen. Jm Gegenteil, er ausländert viel mehr als
seine Vorgänger. Die Verküntngung spielt in einer Halle, die absichtlich jeden
Gedanken an heimatliche Räume fernhalten soll. Der Engel ist ein italienischer
Engel, nicht der altvertraute Dinkonenknabe. Die Stadt im „Abschied von der
Mutter" ist ein kurioses Gebilde, das die Phantasie weit, weit wegführen soll.
Und trotzdem — wenn er die Vermählung zeichnet und die Brautjungfern der
Maria, so greift er wieder zum Allernächsten und bringt modernste Nürnberger
Toiletten.

Der Formgeschmack hat sich nach dem Feinen und Zierlichen hin entwickelt.
Will man den llnterschied gegen früher klar sehen, so muß man die Bäume
hier mit denen der Passion vergleichen: wie er jetzt die Silhouetten durch-
bildet, den Ästchen bis in die letzte Linie nachgeht und auch noch am geknickten
und verdorrt herunterhängenden Zweige sein Vergnügen hat. Das gilt gleicher-
 
Annotationen