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Allgemeines M Stilbestimmung

i.

(^seder Künstler sieht die Welt in vorempfundenen Formen und Farben.

Für Dürer war die Linie die Form, in der er oorzustellen gezwungen
war. Wenn man sagt, er sei Zeichner gewesen, so heißt das nicht, daß er
mehr gezeichnet als gemalt habe, sondern daß alle Phänomene der Natur sich
ihm in Linienschauspiele umgesetzt haben. DiZPlastik der Körper, die er leb-
haft bis zum Nbertriebenen empsindet, wird ihm zu auf- und abschießenden
Linienströmen und wenn sich die Bewegung beruhigt und ins Flachere mündet,
so sind es, tröpselnd und leise, noch immer Linienelemente, die den Vorgang
wiederspiegeln. Das blitzende Licht wie die stoffliche Qualität von Holz und
Stein und tierischem Fell saßt er linear. Darum gibt es keinen gemalten
„Hieronymus im Gehäus". Das alte blanke Holz und der Zauber der ins
Zimmer sallenden Sonne schien ihm mit den Mitteln der Zeichnung am voll-
kommensten charakterisiert. Nnd sein Werk bestätigt, daß bei analogen Ausgaben
die Malerei hinter der Graphik zurückbleibt: der Bart des Holzschuher, den
er gemalt hat, ist schlechter als ein gestochener Bart wie der des Kurfürsten
von Sachsen.

Nun hat aber diese Dürersche Linie ihre besondere Art, an der man den
Ateister unter allen seinen Zeitgenossen erkennt. Wenn der zeichnerische Stil
im allgemeinen geneigt sein wird, die Linienbewegung zu steigern, so sind
die Kuroen Dürers noch einmal mit einem besonderen Saft getränkt und es
wäre vielleicht nicht unmöglich, das Gesetz ihrer Bildung zu bestimmen und
auch die Modisikationen anzugeben, die es zu verschiedenen Zeiten der Ent-
wicklung erfahren hat. Jch möchte es aber bei den Andeutungen bewenden
lassen, die srüher da und dort gemacht worden sind, und nur daran erinnern,
daß man oon einer Linie in aÜ8traeto eigentlich nicht sprechen kann, sondern
nur oon materiellen Linien, Federstrichlinien, Kreidestrichlinien, in Kupfer ge-
grabenen Linien u. s. w.und daß das Material der Zeichnung von Ansang an
in der Vorstellung eines Künstlers mitarbeitet. Die künstlerische Sinnlichkeit
beginnt bei der Technik. Das Material, das er sich wählt, ist schon ein Ausdruck
seinerFormempfindung,wie es andererseits dannbestimmend aufsiezurückwirken
wird und den Spezialisten zum Sklaven seiner Technik macht. Dürer ist sehr

Wölfflin, Dürer 19
 
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