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KUNSTGESCHICHTLICHE GRUNDBEGRIFFE

Dem scheint zu widersprechen, daß man der nordischen Baukunst gerade
ein sehr starkes Individualisieren der einzelnen Motive nachsagt, daß ein Erker,
ein Turm eben gar nicht dem Ganzen sich fügt, sondern mit persönlichem
Eigenwillen dagegen sich stemmt. Allein dieser Individualismus hat mit
der Freiheit der Teile in einem gesetzlich gebundenen Zusammenhang nichts
zu tun. Und mit der Betonung des Eigenwilligen ist auch nicht alles ge-
sagt : das Charakteristische ist, wie diese Schößlinge der Willkür doch fest
im Kernbau verwurzelt bleiben. Man kann einen solchen Erker nicht ab-
lösen, ohne daß Blut flösse. Es ist ein der italienischen Vorstellung unzu-
gänglicher Begriff von Einheit, daß ganz heterogene Teile von einem ge-
meinsamen Lebenswillen getragen sein können. Die „wilde“ Manier der
ersten deutschen Renaissance, wie wir sie z. B. in den Rathäusern von Alten-
burg, Schweinfurt, Rothenburg finden, hat sich allmählich beruhigt, aber
auch in der gemessenen Monumentalität der Rathäuser von Augsburg oder
Nürnberg lebt eine heimliche Einheit der formenden Kraft, die von italie-
nischer Art verschieden ist. Die Wirkung liegt im großen Strömen der Form,
nicht im Gliedern und Absetzen. In aller deutschen Architektur ist der Be-
wegungsrhythmus das Entscheidende, nicht die „schöne Proportion“,

Wenn das für den Barock allgemein zutrifft, so hat doch der Norden die
Bedeutung der Teilglieder in viel weitergehender Weise der großen Gesamt-
bewegung geopfert als Italien. Er ist dadurch namentlich in Binnenräumen
zu wunderbaren Wirkungen gelangt. Und man kann wohl sagen, daß in
der deutschen Kirchen- und Schloßbaukunst des 18. Jahrhunderts der Stil
seine letzten Möglichkeiten offenbart.

Auch in der Architektur ist die Entwicklung keine gleichmäßig fortschrei-
tende gewesen und mitten im Barock stößt man auf Reaktionen des pla-
stisch-tektonischen Geschmacks, die dann natürlich immer auch Reaktionen
zugunsten des Einzelteils gewesen sind. Daß ein Bau wie das klassizistische
Rathaus von Amsterdam zur Zeit des späten Rembrandt hat entstehen können,
muß jeden vorsichtig machen, der von dem einen Rembrandt auf die ganze
holländische Kunst schließen möchte. Aber andrerseits darf man den Stil-
gegensatz auch nicht überschätzen. Man könnte auf den ersten Blick wohl
glauben, es gäbe auf der ganzen Welt nichts, was der Forderung barocker
Einheit stärker widerspräche als dieses Haus mit seinen starken Gesims-
und Pilasterteilungen und den glatt in die Mauer eingeschnittenen, kahlen
Fenstern. Allein die Massengruppierung ist doch die vereinheitlichende des
Barock und die Pilasterintervalle sprechen nicht mehr als einzelne schöne

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