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Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Hrsg.]; Institut für Denkmalpflege [Hrsg.]; Königfeld, Peter [Bearb.]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Das holzsichtige Kunstwerk: zur Restaurierung des Münstermann-Altarretabels in Rodenkirchen/Wesermarsch — Hameln: Niemeyer, Heft 26.2002

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Anmerkungen zu Münstermann und seinem Werk

begegnet werden kann. Es war ihm zumindest für seine letzten
Lebensjahre gelungen, das strikte Steinverbot zu mildern. Sicher-
lich nicht zuletzt aus dieser Erfahrung, hatte der Meister der Rund-
plastik im sakralen Kunstwerk ganz bewusst eine Lebensachse
zurück gegeben. Seine Figuren brauchen scheinbar dieses ihnen
innewohnende Energiezentrum, um abwägend nachzudenken.
Hauptsächlich durch die Mosesfigur wird das Gefühl vermittelt,
als sei sie mit einer Bewusstheit des Willens ausgestattet. Die
künstlerischen Mittel, die der Meister hierfür einsetzt, sind volu-
minöse, kompakte Körperlichkeit, handfeste schwere Gewand-
stoffe, strenge Faltenbildung, verhaltene Gestik, konzentrierte
Mimik u.a. Die zentrale Lebensachse eignet der Moses- und der
Puttofigur und ihr „Träger" scheint das Rückgrat, das einheitlich
von dem Kopf bis zu den Zehen reichende Skelett zu sein. Noch
einmal geblinzelt, dünkt die ideelle Rotationsachse des Nackeepi-
taphes nun das Zentrum des Puttos zu aktivieren. Er wird so einem
stark lebensnervigen Baum vergleichbar. Über das Rückgrat ver-
fügen die Engelchen auch. Zudem erwecken sie den Eindruck, dass
erst die Einheit von selbständig existierendem Kopf, Arm, Eland,
Rumpf, Bauch, Bein und Fuß das Wesen „Mensch" ausmacht.
Unwillkürlich fühlt man sich an Ph. A. T. Paracelsus (1493-1541)
erinnert. Die enorme Sonderheit der Engelchen, um den Vergleich
mit der Flora nochmals zu bemühen, liegt darin: Sie gemahnen
nicht an einen Baum, sondern an ein eng gepflanztes, aus vielen
Sträuchern sich gut zusammensetzendes Gebüsch. Im Kern eines

jeden Körperteiles befindet sich jetzt eine eigene kleine Achse.
Noch sind deren Verbindungsstücke, die Gelenke, nicht so klar
herausgebildet. Dafür wird die Schleuderkraft der „Achsen-
stücke" mit einer Deutlichkeit spürbar, wie es F. Ditterich d. Ä.
auszudrücken nicht vermochte. Damit zeigen die Engelchen an-
satzweise eine Grundauffassung, welcher sich auch die begabte-
sten Schüler von Franz Ditterich d.Ä., sein Sohn Bernhard und
Gottfried Löser, nicht anschließen konnten. Die endgültige „Be-
freiung" des Menschenbildes zu gestalten, welches individuellen
Willen und aktive Tätigkeit aus eigener Intention widerspiegelt,
verhinderte wohl das mehr und mehr provinziell werdende geisti-
ge Klima Freibergs. Die Lokalschule der Stadt hatte um 1630 den
Höhepunkt ihrer Entwicklung überschritten.
Der Figurenstil der Engelchen war nur noch einmal, im Werk
von Ludwig Münstermann, zu finden, vergleichbar beispielsweise
in dem Putto mit Schild und Kelch aus der St. Bartholomäus-Kirche
in Tossens (Landesmuseum Oldenburg, Inv.Nr. 14.501) (Abb. 14)
oder dem wappenhaltenden Putto von einer Kommunionsbank-
wange aus der St. Matthäus-Kirche in Rodenkirchen (Landesmu-
seum Oldenburg, Inv.Nr. 2.425)42, in seiner ausgereiften, expres-
siven Form aber vor allem in den aus Lindenholz um 1623/24 ge-
schnitzten Skulpturen des ersten Menschenpaares, Adam und
Eva, ehemals in der Kirche zu Holle (Landesmuseum Oldenburg,
Inv.Nr. 4.096) (Abb. 15) befindlich.


14 Oldenburg, Landesmuseum. Putto als Tragefigur mit Schild und Kelch.
Eichenholz, farbig gefaßt, um 1620, Ludwig Münstermann.


15 Oldenburg, Landesmuseum. Adam und Eva. Lindenholz, 1623/24,
Ludwig Münstermann.

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