Stadtgang 1
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prägen von der westlichen Innenstadttangente das Bild
des Hohen Ufers, das Hillebrecht als mutmaßlich na-
mensgebende Keimzelle der Stadt wirkungsvoll in
Szene setzte.
Die durch eine Luftmine ihrer Dacheindeckung und
ihrer Gewölbe beraubte Marktkirche, bald nach dem
Weltkrieg durch Oesterlen wiederhergestellt, ist heute in
ihrem Doppelcharakter als gotische Hallenkirche des
14. Jahrhunderts und als Dokument einer im Inneren
purifizierenden Wiederherstellung ein Gegenstand der
Denkmalpflege. Im Konflikt um die im Seitenschiff
bewusst außerhalb der Achse installierte Orgel mit mo-
dernem Prospekt von Oesterlen hat der so angelegte
Gegensatz seine jüngste Zuspitzung erfahren.
Beim denkmalpflegerischen Umgang mit zwei Ge-
schäftshäusern in einer der nahen Einkaufsstraßen
wurde die Berührung und Durchdringung von Stadt-
bildpflege und Denkmalpflege offenkundig. Die von der
Denkmalschutzbehörde betreute Rekonstruktion der in
den 1960er Jahren zerstörten Erdgeschosszonen in den
repräsentativen Werksteinfassaden der früheren Tradi-
tionshäuser vervollständigt nicht nur das jeweilige Bild
der Häuser, sondern lässt diese eine Brücke zum histo-
rischen Charakter des Stadtzentrums der Vorkriegszeit
bilden. Die wenigen Geschäftshäuser im Zentrum, die
den Krieg überdauert haben, belegen den weitgehend
am historischen Stadtgrundriss orientierten Wiederauf-
bau und die maßstabgebende Funktion der Vorkriegs-
bauten für den modernisierten Wiederaufbau der Stadt.
Die Bewahrung der Fassade eines Geschäftshauses
der 1950er Jahre in der Karmarschstraße erforderte nicht
nur die Abwehr entstellender Werbeanlagen, sondern
auch die Durchsetzung von Schriftzügen in den typi-
schen Formen der Bauzeit. Mittlerweile ist dieses An-
liegen der Denkmalpflege gerichtlich bestätigt worden.
Das Alte Rathaus, ein identifikationsstiftender Bau
gegenüber der Marktkirche, ist nach dem Auszug der
Verwaltung durch einen Investor für geschäftliche und
gastronomische Nutzungen umgebaut worden. Passa-
gen sollten den vierflügligen Ziegelbau erschließen, der
neben dem mittelalterlichen Kembau des 15. Jahrhun-
derts in den Formen norddeutscher Backsteingotik auch
einen neugotischen Flügel aus den Jahren 1889/90 und
einen Flügel im Rundbogenstil aus den 1840er Jahren
enthält. Die aus dem Wettbewerbskonzept übernom-
menen Überdachungen der neuen Eingänge, ausgeführt
als moderne, freistehende, verglaste Stahlkonstruktio-
nen, hatten in der Bauphase 1998 zunächst für Empö-
rung in der Öffentlichkeit gesorgt; als auch das Innere
zugänglich wurde und die architektonische Qualität der
aus Sicht des Denkmalschutzes substanzschonenden
Planung insgesamt erlebt werden konnte, versöhnte sich
das Publikum bald mit dem „neuen“ Bau.
Eine vergleichbare Aufgabe stellte sich auch den
Planem der früheren Reichsbahndirektion am Bahnhof.
Der vierflüglige Bau aus dem Jahre 1872 wurde nach
der Aufgabe durch die Deutsche Bundesbahn ebenfalls
zur Nutzung durch Geschäfte und Gastronomie aus-
gebaut. Trotz neuer Eingänge in zwei Seiten kann der
Umbau als gelungenes Beispiel einer schonenden
Umnutzung und Vitalisierung eines Baudenkmals ge-
sehen werden.
Dem Direktionsgebäude vorausgegangen war die
Umnutzung des 1876-79 von Hubert Stier erbauten
Empfangsgebäudes des Hauptbahnhofes, die zur Welt-
ausstellung EXPO 2000 erfolgt war. Es dominiert mit
seiner reich gegliederten gelben Ziegelfassade, die bei
dem Umbau durch großflächige grüne Glasflächen
ergänzt wurde, die Breitseite des weiten, polygonalen
Emst-August-Platzes. Hier stellte sich die Frage, ob die
Ausweisung von vier isolierten Einzeldenkmalen dem
Platz, der ein zentrales Element der Laves 'sehen Stadt-
planung darstellt, wirklich angemessen ist. Eine Aus-
weisung des historischen Platzes in seiner Grundfläche
und Kubatur sollte unabhängig von der Bewertung der
zum Teil aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
stammenden Platzrandbebauung der Denkmalpflege
erweiterte Handlungsmöglichkeiten geben. Mit der Dis-
kussion dieser Fragestellung einer städtebaulichen
Denkmalpflege schloss der Stadtrundgang.
Wilhelm Lucka
Abb. 3 und 4: Hannover, Altes
Rathaus, nach Auszug der
Verwaltung Umnutzung für
geschäftliche und gastrono-
mische Zwecke, Innenhof mit
Restaurant (oben) und
Fassade zur Karmarschstraße
mit einem der neuen Eingänge
(unten), 2004.
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prägen von der westlichen Innenstadttangente das Bild
des Hohen Ufers, das Hillebrecht als mutmaßlich na-
mensgebende Keimzelle der Stadt wirkungsvoll in
Szene setzte.
Die durch eine Luftmine ihrer Dacheindeckung und
ihrer Gewölbe beraubte Marktkirche, bald nach dem
Weltkrieg durch Oesterlen wiederhergestellt, ist heute in
ihrem Doppelcharakter als gotische Hallenkirche des
14. Jahrhunderts und als Dokument einer im Inneren
purifizierenden Wiederherstellung ein Gegenstand der
Denkmalpflege. Im Konflikt um die im Seitenschiff
bewusst außerhalb der Achse installierte Orgel mit mo-
dernem Prospekt von Oesterlen hat der so angelegte
Gegensatz seine jüngste Zuspitzung erfahren.
Beim denkmalpflegerischen Umgang mit zwei Ge-
schäftshäusern in einer der nahen Einkaufsstraßen
wurde die Berührung und Durchdringung von Stadt-
bildpflege und Denkmalpflege offenkundig. Die von der
Denkmalschutzbehörde betreute Rekonstruktion der in
den 1960er Jahren zerstörten Erdgeschosszonen in den
repräsentativen Werksteinfassaden der früheren Tradi-
tionshäuser vervollständigt nicht nur das jeweilige Bild
der Häuser, sondern lässt diese eine Brücke zum histo-
rischen Charakter des Stadtzentrums der Vorkriegszeit
bilden. Die wenigen Geschäftshäuser im Zentrum, die
den Krieg überdauert haben, belegen den weitgehend
am historischen Stadtgrundriss orientierten Wiederauf-
bau und die maßstabgebende Funktion der Vorkriegs-
bauten für den modernisierten Wiederaufbau der Stadt.
Die Bewahrung der Fassade eines Geschäftshauses
der 1950er Jahre in der Karmarschstraße erforderte nicht
nur die Abwehr entstellender Werbeanlagen, sondern
auch die Durchsetzung von Schriftzügen in den typi-
schen Formen der Bauzeit. Mittlerweile ist dieses An-
liegen der Denkmalpflege gerichtlich bestätigt worden.
Das Alte Rathaus, ein identifikationsstiftender Bau
gegenüber der Marktkirche, ist nach dem Auszug der
Verwaltung durch einen Investor für geschäftliche und
gastronomische Nutzungen umgebaut worden. Passa-
gen sollten den vierflügligen Ziegelbau erschließen, der
neben dem mittelalterlichen Kembau des 15. Jahrhun-
derts in den Formen norddeutscher Backsteingotik auch
einen neugotischen Flügel aus den Jahren 1889/90 und
einen Flügel im Rundbogenstil aus den 1840er Jahren
enthält. Die aus dem Wettbewerbskonzept übernom-
menen Überdachungen der neuen Eingänge, ausgeführt
als moderne, freistehende, verglaste Stahlkonstruktio-
nen, hatten in der Bauphase 1998 zunächst für Empö-
rung in der Öffentlichkeit gesorgt; als auch das Innere
zugänglich wurde und die architektonische Qualität der
aus Sicht des Denkmalschutzes substanzschonenden
Planung insgesamt erlebt werden konnte, versöhnte sich
das Publikum bald mit dem „neuen“ Bau.
Eine vergleichbare Aufgabe stellte sich auch den
Planem der früheren Reichsbahndirektion am Bahnhof.
Der vierflüglige Bau aus dem Jahre 1872 wurde nach
der Aufgabe durch die Deutsche Bundesbahn ebenfalls
zur Nutzung durch Geschäfte und Gastronomie aus-
gebaut. Trotz neuer Eingänge in zwei Seiten kann der
Umbau als gelungenes Beispiel einer schonenden
Umnutzung und Vitalisierung eines Baudenkmals ge-
sehen werden.
Dem Direktionsgebäude vorausgegangen war die
Umnutzung des 1876-79 von Hubert Stier erbauten
Empfangsgebäudes des Hauptbahnhofes, die zur Welt-
ausstellung EXPO 2000 erfolgt war. Es dominiert mit
seiner reich gegliederten gelben Ziegelfassade, die bei
dem Umbau durch großflächige grüne Glasflächen
ergänzt wurde, die Breitseite des weiten, polygonalen
Emst-August-Platzes. Hier stellte sich die Frage, ob die
Ausweisung von vier isolierten Einzeldenkmalen dem
Platz, der ein zentrales Element der Laves 'sehen Stadt-
planung darstellt, wirklich angemessen ist. Eine Aus-
weisung des historischen Platzes in seiner Grundfläche
und Kubatur sollte unabhängig von der Bewertung der
zum Teil aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
stammenden Platzrandbebauung der Denkmalpflege
erweiterte Handlungsmöglichkeiten geben. Mit der Dis-
kussion dieser Fragestellung einer städtebaulichen
Denkmalpflege schloss der Stadtrundgang.
Wilhelm Lucka
Abb. 3 und 4: Hannover, Altes
Rathaus, nach Auszug der
Verwaltung Umnutzung für
geschäftliche und gastrono-
mische Zwecke, Innenhof mit
Restaurant (oben) und
Fassade zur Karmarschstraße
mit einem der neuen Eingänge
(unten), 2004.