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DER DREILEIBIGE.

(Hierzu Tafel V.)

Wundervoll einfach gebaut und von innerer Klarheit erfüllt, reich
nicht durch die Vielheit der Beziehungen zur Außenwelt, sondern durch
ihren starken Zusammenhang mit einer geheimnisvollen Welt, aus der
sie stammen, blicken die großen plastischen Schöpfungen der Dädaliden
aus weit geöffneten Augen in die Welt; Pflanzen vergleichbar, die gestern
noch Kristalle waren und morgen bluterfüllte warme Körper sein werden.
Selbst dem nüchternen Spätling Pausanias, der sie wie viele Betrachter
von heute reichlich ungereimt findet, ringen sie das Geständnis ab, daß
‘auch ihnen etwas Gotterfülltes innewohne’ (II 4, 5).

Gleichen Wesens ist die Gestaltenwelt, mit der die Künstler jener
Tage ihre Gefäße, ihr Gerät, ihre Tempel überziehen. Die Überfülle von
Figuren, die im VII. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Phantasie, ge-
schaffen wird, entstammt demselben reichen inneren Quell, dem auch
die eindringliche Formenprägung entspringt. Die Formensprache keines
andern Jahrhunderts, auch nicht des sechsten, hätte diese Gestalten
hervorbringen können; in die Sprache einer anderen Zeit übersetzt,
wandeln sie ihren eigentlichen naiv-phantastischen Sinn, werden sie deko-
rativ oder erzählend oder gedankenhaft. Der vielbesprochene Raum-
zwang, der sie bindet, ist zugleich ihre Freiheit; gedanklich unverbunden,
wie die Vorstellungen in der Phantasie der Künstler, können die ver-
schiedensten Gebilde, Tiere, Menschen und phantastische Mischwesen,
Bilder des Tages und der Fabel, in diesem Raum zusammenwohnen, in
ihn eingebunden durch Streifenordnung, durch Reihung oder Wappen-
schema, durch Ausbreitung der Glieder, durch lückenfüllende Ranken
und Blumen. Die starke Kraft dieses Raumes und die starke inhaltliche
Suggestion jener Gestalten ist dasselbe Ding.

Das Schicksal dieser Kunst ist das des Kindes. Mit jedem Tag ver-
liert sie mehr von jener geheimnisvollen Urkraft, tauscht sie bald zu ihrem
 
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