DIE WENDUNG DES BLAUBARTS.
(Hierzu Taf. XV.)
Solange man mit dem Worte 'Wirklichkeit’ allesMögliche bezeichnete
und beispielsweise an dem Satz: ‘ein Maler malte einen Apfel und ver-
zehrte ihn dann’, keinen Anstoß nahm, konnte man mit einigem Rechte
sagen, die archaische Kunst sei wirklichkeitsferner, unrealistischer als die
späteregriechische. So lang-e man eine durch Linearperspektive, Leichen-
anatomie, Meßinstrumente und andere Hilfsmittel der Wissenschaft kon-
trollierte Darstellungsweise als allein richtig bezeichnete, konnte man der
archaischen Kunst ihre Fehler vorrechnen oder beschönigend sagen, sic
abstrahiere, stilisiere. Und so lange man die kompliziertere Welt der
späteren Entwicklung als Maßstab nahm, konnte man der archaischen
Kunst unterschieben, sie vereinfache, wähle aus der Fülle der Erscheinun-
gen aus. Heute wissen wir, daß die archaischen Kiinstler ihrer Wirklich-
keit so realistisch gegeniiberstanden wie spätere auch; daß sie getreu und
anschaulich sein wollten, nicht zurechtmachen; erschöpfen, nicht aus-
wählen; und daß es der Sinn jener Zeit war, an die Stelle der ererbten,
einfachen, festgefügten und ungebrochenen Wirklichkeit eine lockere
und kompliziertere, aber logischer verknüpfte zu setzen.
Der Typhongiebel kann als eine merkwürdige Etappe auf diesem
Weg bezeichnet werden. Seine Zeit, die zwischen Sophilos und Klitias,
zwischen Kalbträger und Volomandra-Apoll, hat die alte, einfache
früharchaische Welt mit ihrem fast dämonisch lebendigen Vortrag, ihrer
urkräftigen Farbenskala, ihrem geometrisch klaren Bau von Statue und
Bildstreif noch nicht so weit hinter sich gelassen, daß Schrägansichten
schon etwas Selbstverständliches wären. Die Ringkampfgruppe der linken
Giebelhälfte fiihrt der Meister fast ganz in der Fläche vor, Herakles und
der Fischleib zumal rollen sich mit klaren Profilen vor uns ab, der mensch-
liche Oberkörper des Triton erscheint in der Vorderansicht, die die Maler
(Hierzu Taf. XV.)
Solange man mit dem Worte 'Wirklichkeit’ allesMögliche bezeichnete
und beispielsweise an dem Satz: ‘ein Maler malte einen Apfel und ver-
zehrte ihn dann’, keinen Anstoß nahm, konnte man mit einigem Rechte
sagen, die archaische Kunst sei wirklichkeitsferner, unrealistischer als die
späteregriechische. So lang-e man eine durch Linearperspektive, Leichen-
anatomie, Meßinstrumente und andere Hilfsmittel der Wissenschaft kon-
trollierte Darstellungsweise als allein richtig bezeichnete, konnte man der
archaischen Kunst ihre Fehler vorrechnen oder beschönigend sagen, sic
abstrahiere, stilisiere. Und so lange man die kompliziertere Welt der
späteren Entwicklung als Maßstab nahm, konnte man der archaischen
Kunst unterschieben, sie vereinfache, wähle aus der Fülle der Erscheinun-
gen aus. Heute wissen wir, daß die archaischen Kiinstler ihrer Wirklich-
keit so realistisch gegeniiberstanden wie spätere auch; daß sie getreu und
anschaulich sein wollten, nicht zurechtmachen; erschöpfen, nicht aus-
wählen; und daß es der Sinn jener Zeit war, an die Stelle der ererbten,
einfachen, festgefügten und ungebrochenen Wirklichkeit eine lockere
und kompliziertere, aber logischer verknüpfte zu setzen.
Der Typhongiebel kann als eine merkwürdige Etappe auf diesem
Weg bezeichnet werden. Seine Zeit, die zwischen Sophilos und Klitias,
zwischen Kalbträger und Volomandra-Apoll, hat die alte, einfache
früharchaische Welt mit ihrem fast dämonisch lebendigen Vortrag, ihrer
urkräftigen Farbenskala, ihrem geometrisch klaren Bau von Statue und
Bildstreif noch nicht so weit hinter sich gelassen, daß Schrägansichten
schon etwas Selbstverständliches wären. Die Ringkampfgruppe der linken
Giebelhälfte fiihrt der Meister fast ganz in der Fläche vor, Herakles und
der Fischleib zumal rollen sich mit klaren Profilen vor uns ab, der mensch-
liche Oberkörper des Triton erscheint in der Vorderansicht, die die Maler