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Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 26.1910

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4. Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.27775#0046
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1910

ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU

Heft 4

völkerungsschicht zu tun. Daß einmal ein Schüler die Schule
wechselt, kommt kaum vor, und auch, daß einer sich fern
vom Orte seiner Ausbildung niederläßt, bildet die seltene Aus-
nahme. Die überwiegende Mehrzahl bleibt in ihrem engeren
Vaterlande, im Bannkreis ihrer Schule und ist hier ausschlag-
gebend für die Gesamterscheinung der Bauweise. Es geht
zur Zeit die schwer kontrollierbare Notiz durch die Fachpresse,
90 °/o aller Neubauten würden von Baubeflissenen errichtet, die
aus Baugewerkschulen hervorgegangen seien.
In richtiger Erkenntnis dieser Tatsachen sind denn auch
— im Gegensatz zu den ausschließlich auf die Landeshaupt-
städte beschränkten Hochschulen — die Baugewerkschulen
gleichmäßig über das Land verteilt, und zwar wird diese Ver-
teilung um so zweckentsprechender sein, je sorgfältiger darauf
geachtet ist, daß im Mittelpunkt einer jeden charakteristisch
ausgeprägten Bauweise eine Baugewerkschule zu finden ist.
Denn die Aufgabe dieser Schulen ist es — im Gegensatz
zu den Hochschulen! — möglichst unmittelbar an die
überlieferte Bauweise der Örtlichkeit anzuknüpfen,
sie zu studieren, in ihrem Geiste weiterzuarbeiten und
allen architektonisch-stilistischen Weisheitskram fernzuhalten,
der dieser örtlichen Heimatkunst wesensfremd ist. Die Bau-
gewerkschulen müssen geradezu der Hort sein für die
heimische Stammesart, soweit sie sich in den Bauwerken
niederschlägt; die Baugewerkschulen sind es, die unsre deut-
schen Bauernhaustypen, unsre Kleinbürgerhaustypen davor be-
wahren müssen, von der Hochflut internationaler Schemabauten
und Surrogatbaustoffe weggeschwemmt zu werden!
Welche Verkennung der Aufgaben war es daher, wenn
bis in unsre Tage herein z. B. die Schüler niedersächsischer
Baugewerkschulen mit einem oberflächlich angelernten Formen-
apparat in die Praxis hinausgeschickt wurden, der Schweizer-
häusern oder italienischen Renaissancepalästen entnommen war!
Oder was ging diese Schüler der Grundriß des fränkischen
oder ostpreußischen Bauerngehöfts an! Unsern nieder-
sächsischen Bauernhausgrundriß müssen sie in seiner Be-

Umbau der Villa des Herrn Richard Senf Architekt: Fritz Schade
in Leipzig. — Treppenhaus. in Leipzig.




Wohn- und Geschäftshaus »Rot-Haus «
in Winterthur.


Architekten: Rittmeyer & Furrer
in Winterthur.

deutung erfassen, und lernen müssen sie, wie er zeitgemäß
verbessert und dadurch gerettet werden kann. Und was
geht sie der Berliner Mietshausgrundriß mit all seiner Minder-
wertigkeit an! Wie das einfache B ü rg er hau s, das ländliche
Wohnhaus, das Arbeiterhaus praktisch, gesund und be-
haglich von außen und innen anzulegen sei — und so, daß
es sich der niedersächsischen Bauart und Landschaft harmo-
nisch einfüge — das sollen sie lernen!
Den Einwand kenne ich schon: »Wir müssen auch für
diejenigen sorgen’, die von unsrer Schule in die Welt hinaus
wollen. Ihnen müssen wir ein für alle Fälle genügendes Rüst-
zeug mitgeben.«
Ich weiß aber ein besseres Rüstzeug als diese Art von
»En-tout-cas-Architektur«, mit der man bisher unsre Bau-
gewerkschüler ausgerüstet hat, dieses Sammelsurium archi-
tektonischer Gummistempel, die man planlos einem jeden Ge-
bäude aufdrücken kann, das man »verschönen« will.
Dieses bessere Rüstzeug heißt: Respekt vor boden-
ständiger Bauweise, Verständnis für den inneren Zu-
sammenhang zwischen Zweck, Konstruktion und Form
und Erkenntnis der Grenzen eigener Fähigkeit!
Mit einem solchen Rüstzeug versehen, darf man den
Schüler einer Baugewerkschule getrost auch von der Wasser-

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