32 An einem schönen Frühlingstag als die Gatten mit den beiden Frauen unter der Eiche saßen
und plauderten, da erscholl in den Zweigen des Baumes ein so wundersames Vogellied, daß
ihnen allen das Herz zerschmolz vor Weh und Wonne. Es war ein himmelblaues Vögelein,
das also sang. Es wiegte sich auf dem höchsten Zweig im Sonnenlicht und sang süß und
mächtig. Der König wurde zu Tränen gerührt. Die Königin aber rief: Vögelein, warum
machest Du meinen Liebsten weinen?
Da sang der Vogel in menschlicher Sprache:
Heute sing ich ihm Leid! Da rief die Königin hinauf:
Wann singst Du uns Freud?
Dir nicht! Dir nicht! antwortete das Vögelein rasch.
Da rief die Königin wiederum hinauf, und ihre Stimme schluchzte:
Wann singst Du meinem Liebsten Freud?
Das Vöglein gab keine Antwort. Es hüpfte unruhig in den Ästen hin und wieder. Endlich
flatterte es herab, setzte sich auf den niedersten Zweig, dem König gegenüber, und nach einem
leisen Gezwitscher fragte es: Weißt Du noch, König? Besinne Dich! Besinne Dich!
Von jener Stunde fing die Schwermut des Königs so recht an. Er verfiel in ein Grübeln, um
zu finden, was er vergessen habe. Am Abende desselben Tages ertrank die Königin beim
Baden im Schloßteiche.
Der kranke König hat darauf niemals mehr den Park betreten. Er ließ von einem Ecke zum
andern mitten durch den Garten einen seidenen Faden spannen. Der teilte auch die Waldwiese
in zwei Halbkreise. Da der Faden gerade mitten auf die Eiche stieß, wurde er um den Stamm
geschlungen und dann weiter gezogen bis zum andern Eck des Gartens. Und nun schenkte
der König einer jeden von den beiden Frauen eine Hälfte des Parkes. Der Eichbaum in der
Mitte sollte ihnen gemeinsam gehören.
Nun wohnten die beiden Frauen eine jede in ihrem Eigentum. Die eine wurde vom Volke
genannt: Die Frau vom Sonnengarten, die andere: Die Frau vom Mondgarten. Beide weilten
am liebsten unter dem Baume. Aber da sie aufeinander gram waren, saßen sie nie bei einander,
sondern sie kehrten sich die Rücken zu, jede an den Stamm des Eichbaums gelehnt.
So saßen sie auch an jenem Tage, wo die Boten des Königs hinaus sprengten, um allen
Untertanen die neue Botschaft zu verkündigen. Die Frau vom Sonnengarten hatte ihre goldene
Spindel in der Hand und spann, die Frau vom Mondgarten hatte vor sich ein silbernes
Schachbrett und sann über eine Aufgabe. Da sprengte der Bote über die Wiese daher längs
des Seidenfadens, stieg vom Rosse, ging an den Eichbaum vor, und zwar so, daß ihm der Faden
längs über den Scheitel lief, verneigte sich vor den edeln Frauen und verkündete:
Der König läßt allen seinen Untertanen seinen königlichen Gruß entbieten und ihnen folgendes sagen:
Wer das Lied kennt: Sieben Geschwister sind sich hold,
und wer dem König berichten kann, wie das Lied weiter geht, dem schenkt der König seine
zwei besten Pferde und seinen kostbarsten Wagen.
und plauderten, da erscholl in den Zweigen des Baumes ein so wundersames Vogellied, daß
ihnen allen das Herz zerschmolz vor Weh und Wonne. Es war ein himmelblaues Vögelein,
das also sang. Es wiegte sich auf dem höchsten Zweig im Sonnenlicht und sang süß und
mächtig. Der König wurde zu Tränen gerührt. Die Königin aber rief: Vögelein, warum
machest Du meinen Liebsten weinen?
Da sang der Vogel in menschlicher Sprache:
Heute sing ich ihm Leid! Da rief die Königin hinauf:
Wann singst Du uns Freud?
Dir nicht! Dir nicht! antwortete das Vögelein rasch.
Da rief die Königin wiederum hinauf, und ihre Stimme schluchzte:
Wann singst Du meinem Liebsten Freud?
Das Vöglein gab keine Antwort. Es hüpfte unruhig in den Ästen hin und wieder. Endlich
flatterte es herab, setzte sich auf den niedersten Zweig, dem König gegenüber, und nach einem
leisen Gezwitscher fragte es: Weißt Du noch, König? Besinne Dich! Besinne Dich!
Von jener Stunde fing die Schwermut des Königs so recht an. Er verfiel in ein Grübeln, um
zu finden, was er vergessen habe. Am Abende desselben Tages ertrank die Königin beim
Baden im Schloßteiche.
Der kranke König hat darauf niemals mehr den Park betreten. Er ließ von einem Ecke zum
andern mitten durch den Garten einen seidenen Faden spannen. Der teilte auch die Waldwiese
in zwei Halbkreise. Da der Faden gerade mitten auf die Eiche stieß, wurde er um den Stamm
geschlungen und dann weiter gezogen bis zum andern Eck des Gartens. Und nun schenkte
der König einer jeden von den beiden Frauen eine Hälfte des Parkes. Der Eichbaum in der
Mitte sollte ihnen gemeinsam gehören.
Nun wohnten die beiden Frauen eine jede in ihrem Eigentum. Die eine wurde vom Volke
genannt: Die Frau vom Sonnengarten, die andere: Die Frau vom Mondgarten. Beide weilten
am liebsten unter dem Baume. Aber da sie aufeinander gram waren, saßen sie nie bei einander,
sondern sie kehrten sich die Rücken zu, jede an den Stamm des Eichbaums gelehnt.
So saßen sie auch an jenem Tage, wo die Boten des Königs hinaus sprengten, um allen
Untertanen die neue Botschaft zu verkündigen. Die Frau vom Sonnengarten hatte ihre goldene
Spindel in der Hand und spann, die Frau vom Mondgarten hatte vor sich ein silbernes
Schachbrett und sann über eine Aufgabe. Da sprengte der Bote über die Wiese daher längs
des Seidenfadens, stieg vom Rosse, ging an den Eichbaum vor, und zwar so, daß ihm der Faden
längs über den Scheitel lief, verneigte sich vor den edeln Frauen und verkündete:
Der König läßt allen seinen Untertanen seinen königlichen Gruß entbieten und ihnen folgendes sagen:
Wer das Lied kennt: Sieben Geschwister sind sich hold,
und wer dem König berichten kann, wie das Lied weiter geht, dem schenkt der König seine
zwei besten Pferde und seinen kostbarsten Wagen.