Die Frau aber starrte auf die Klinge. Sie sah, wie sie breit und mächtig über der großen 35
Zehe des nackten Fußes herauswuchs als ein ungeheurer Nagel.
Mein Bruder, mein Bruder! rief sie, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen. Kennst Du
mich nicht mehr? Ich bin ja Deine Schwester!
Sie hob ihre Locken in die Höhe und hielt die linke Wange an das Gitter.
Sieh doch und greife doch! rief sie.
Da fing auch der Gefangene an zu schluchzen: Du bist meine Schwester! Montag, Öhrlein silberblau.
Sie aber rief:
Dienstag, Zehe eisengrau.
Gib mir Deine Finger herein, daß ich sie küsse.
Sie streckte ihre schlanke Hand durch das Eisengitter, und er küßte jeden Finger und weinte
auf sie nieder.
Nun tu mir eine Liebe an, Schwester Montag, sagte er, nachdem er sein Herz geletzt hatte.
Dort unter dem Holunderbaum ist ein Bänkchen. Die Maurer, die heute früh im Schloßgraben
gearbeitet haben, haben dort ihr Werkzeug liegen lassen. Hole Meisel und Hammer herbei.
Im Nu hatte Montag das Gewünschte geholt.
Soll ich Dein Gitter wegschlagen? fragte sie.
Nein, aber mein Messer, sagte Dienstag. Der Meisel ist scharf, ich habe ihn selbst geschärft.
Siehe, ich habe das Messer flach auf den Stein gelegt. Setze den Meisel an, dicht am Zehen,
und jetzt schlage zu!
Montag schlug mit dem Hammer zu, und das Messer sprang wie ein Blitz weit in den
Graben hinaus.
Laß das verfluchte Eisen liegen! Decke es zu mit Moos. Nimm dort den Ziegel und schiebe
es in das Gestrüpp, daß ich es nimmer blitzen sehe. Und jetzt noch eines, liebe Schwester.
Bringe dem König dieses Brieflein und sage ihm, er solle es lesen.
Er reichte seiner Schwester ein großes Epheublatt heraus, das wie ein Tüchlein zusammen-
gefaltet und mit einer dürren Epheurippe wie mit einer Nadel zusammgesteckt war. In dem
Brieflein aber war nichts anderes als die Locke des Königs.
O, der König! rief Montag erschrocken. Ich muß ihm eine Botschaft tragen. Ich habe mich
zu lange bei Dir verweilt, und jetzt kommt meine Feindin mir zuvor. Behüte Dich Gott, ich
hole Dich bald!
Vergiß mein Brieflein nicht! rief der Bruder ihr nach.
Montag eilte ihren Weg fort bis an das Ende des Grabens, kletterte die eiserne Leiter hinauf,
stieg in den Kellerraum, dessen Einfahrttor weit offen stand, und kam auf den Burghof in
demselben Augenblick, wo die Frau vom Sonnengarten durch das Tor schritt.
Der König, der unter der Linde stand, ging gerade dem seltenen Gaste entgegen, da eilte die
Frau vom Mondgarten von der Seite her, sprang zwischen die beiden, warf sich vor dem
Könige nieder und rief:
5
Zehe des nackten Fußes herauswuchs als ein ungeheurer Nagel.
Mein Bruder, mein Bruder! rief sie, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen. Kennst Du
mich nicht mehr? Ich bin ja Deine Schwester!
Sie hob ihre Locken in die Höhe und hielt die linke Wange an das Gitter.
Sieh doch und greife doch! rief sie.
Da fing auch der Gefangene an zu schluchzen: Du bist meine Schwester! Montag, Öhrlein silberblau.
Sie aber rief:
Dienstag, Zehe eisengrau.
Gib mir Deine Finger herein, daß ich sie küsse.
Sie streckte ihre schlanke Hand durch das Eisengitter, und er küßte jeden Finger und weinte
auf sie nieder.
Nun tu mir eine Liebe an, Schwester Montag, sagte er, nachdem er sein Herz geletzt hatte.
Dort unter dem Holunderbaum ist ein Bänkchen. Die Maurer, die heute früh im Schloßgraben
gearbeitet haben, haben dort ihr Werkzeug liegen lassen. Hole Meisel und Hammer herbei.
Im Nu hatte Montag das Gewünschte geholt.
Soll ich Dein Gitter wegschlagen? fragte sie.
Nein, aber mein Messer, sagte Dienstag. Der Meisel ist scharf, ich habe ihn selbst geschärft.
Siehe, ich habe das Messer flach auf den Stein gelegt. Setze den Meisel an, dicht am Zehen,
und jetzt schlage zu!
Montag schlug mit dem Hammer zu, und das Messer sprang wie ein Blitz weit in den
Graben hinaus.
Laß das verfluchte Eisen liegen! Decke es zu mit Moos. Nimm dort den Ziegel und schiebe
es in das Gestrüpp, daß ich es nimmer blitzen sehe. Und jetzt noch eines, liebe Schwester.
Bringe dem König dieses Brieflein und sage ihm, er solle es lesen.
Er reichte seiner Schwester ein großes Epheublatt heraus, das wie ein Tüchlein zusammen-
gefaltet und mit einer dürren Epheurippe wie mit einer Nadel zusammgesteckt war. In dem
Brieflein aber war nichts anderes als die Locke des Königs.
O, der König! rief Montag erschrocken. Ich muß ihm eine Botschaft tragen. Ich habe mich
zu lange bei Dir verweilt, und jetzt kommt meine Feindin mir zuvor. Behüte Dich Gott, ich
hole Dich bald!
Vergiß mein Brieflein nicht! rief der Bruder ihr nach.
Montag eilte ihren Weg fort bis an das Ende des Grabens, kletterte die eiserne Leiter hinauf,
stieg in den Kellerraum, dessen Einfahrttor weit offen stand, und kam auf den Burghof in
demselben Augenblick, wo die Frau vom Sonnengarten durch das Tor schritt.
Der König, der unter der Linde stand, ging gerade dem seltenen Gaste entgegen, da eilte die
Frau vom Mondgarten von der Seite her, sprang zwischen die beiden, warf sich vor dem
Könige nieder und rief:
5