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Baer, Franz; Kraus, Franz Xaver [Hrsg.]
Die Wandgemälde in der S. Georgskirche zu Oberzell auf der Reichenau — Freiburg im Breisgau, 1884

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https://doi.org/10.11588/diglit.7769#0022
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Stilistische Behandlung der Wandbilder.

musivisch gebildet (705 f.) \ Damascenus gedenkt seiner2 sowol
wie Walafried3, Ekkehard4 und das Malerbuch vom Athos,
welches (§ 274) die Anweisung gibt: 'Christus heilt den Blind-
gebornen: Strassen in der Stadt Jerusalem, und ein blinder
Jüngling, auf einen Stock gestützt, hat auf seinem Rücken
einen Bettelsack hängen, und seine Zehen scheinen durch
seine Schuhe durch; und der Blinde ist vor Christus. Und
wieder sieht man einen Teich mit Wasser, und der Blinde
wäscht seine Augen5.' Demgemäss finden wir die Scene auch
im Codex Egberti und dem Epternacensis6, aber weit früher
schon in dem Codex von Rossano7, auf zahlreichen Elfen-
beinen8 seit dem 5. Jahrhundert und namentlich auch auf
der Tafel von Salerno, deren Darstellung mit der unsrigen in
der Haltung des Herrn wie des Blinden wieder eine gewisse
Uebereinstimmung zeigt9.

Die Kleidung der verschiedenen Gestalten, welche auf
unsern Wandbildern auftreten, ist nicht unwichtig zur Beur-
teilung ihres Charakters und ihres kunstgeschichtlichen Zu-
sammenhanges. Sämmtliche Wandbilder zeigen uns die Ge-
stalten mit einer nicht sehr langen, etwa bis zur Wade herab-
reichenden Tunica bekleidet, über welche die Männer meistens
einen längern Ueberwurf — das Sagum oder die Chlamys
tragen, welche, wie das Opfer im Tempel (Taf. VI) am deut-
lichsten erkennen lässt, stellenweise an der Schulter in einem
Knoten oder mit einer Brosche befestigt war. Der Ueber-
wurf, welchen die Frauen über ihre Tunica tragen, bedeckt
zugleich den hintern Theil des Kopfes (Tafel I). Beinkleider
und Schuhe erscheinen nirgend, höchstens kann man Schuhe
an einem der Träger des Jünglings von Naim vermuthen.
Die Kleider sind ausnahmslos von der allergrössten Einfach-
heit, ohne kostbaren Besatz oder Bordüren, wie sie in der
byzantinischen Tracht vorkommen: überhaupt zeigen unsere
Wandbilder gerade in der Kleidung das allerentschiedenste
Fortleben altrömischer Tradition ohne irgend welches An-
klingen byzantinischer Eigentümlichkeiten. Etwas verschieden
ist die Tracht auf dem Auferstehungsbild an der Westapsis,
wo die Tunica länger, in den Farben wechselnd (bald grün,
bald gelb) ist und der Ueberwurf sich der römischen Toga
eher als dem Sagum nähert. Die Engel haben neben ihren
weissen Untergewändern eine kürzere halbbreite Tunica von
gelbgrüner Farbe. Die Kopfbedeckung fehlt überall und gänz-
lich. Im Gegensatz zu den meisten Darstellungen des 10. und
11. Jahrhunderts, namentlich den Miniaturen, bieten unsere
Bilder grosse und volle Draperien, und wenn das Gefüge und
die Anordnung der Kleider zuweilen auch an Klarheit zu
wünschen lässt, so herrscht doch im Allgemeinen ein ver-
ständiges, wohlabgewogenes Verhältniss der Faltenrnassen, und
man bemerkt hier nichts von der Vorliebe für zackig aufflat-
ternde und spitze oder keilförmig zusammengetriebene Motive.

Die Mehrzahl unserer Figuren ist bartlos: Christus, in
directer Anlehnung an altchristliche Kunst, regelmässig, die
Apostel meistens. Bärtig sind der Priester, der des Aus-
sätzigen Opfer annimmt (Taf. VI), und die Seniores, welche den
Wassersüchtigen herbeiführen (Taf. VIII). Die Behandlung der
Haare ist verständig und natürlich, die meisten Personen tragen

1 Eb. 581.

2 Eb. 590.

3 V. 23: ex limo reparat quidquid natura negabat,

qui luteum primo totum plasmaverat Adam.

4 p. 23, 26: luminis ecce decus certus dominum dare caeco(?)

5 Deutsehe Ausgabe S. 195.

6 Bonn. Jhrb. LXX G6. 86. 90. Cod. Egb. m. Ausg. Taf. XL.

7 Cod. Rossan. tab. 12.

8 Westwood p. 33. 34 (Lipsanothek v. Brescia, 5.—6. Jh.). 40 (die zwei
Blinden). 43 (Elf. Micheli, 7. Jh.). 46 (Buchdeckel, Paris, 5. —7. Jh.). 50(desgl.
Ravenna, 6.-7. Jh.). 128. 141. 158. 274. 476.

9 Dies Stück der Salerner Tafel ist beschrieben bei Westwood p. 93.
Vgl. Roiiault de Fleury La Messe I, PI. 68.

volles, aber kurzes Haar — nur Christi Haupthaar fällt in
grossen Locken auf die Schultern herab.

Leider ist die Mehrzahl der Bilder zu sehr zerstört, um
mit Sicherheit sagen zu lassen, ob und in wieweit dem
Künstler der Ausdruck geistiger Empfindung in den Köpfen
gelungen ist. Soviel lässt sich immerhin behaupten, dass die
Gesichter hier keineswegs durchschnittlich theilnahm- und
affectlos gewesen sein dürften, wenn auch der Antheil an dem
was vorgeht sich hauptsächlich in der Haltung und in den
Gebärden des Körpers ausspricht. Mehrere Scenen, wie
namentlich der Sturm auf dem Meere und die Erweckung des
Lazarus haben bei aller Einfachheit der Darstellungsmittel eine
wahrhaft dramatische Ausprägung erhalten. Die Bewegungen
des Schreckens, des Vertrauens, des Staunens, der Neugierde
und Dankbarkeit sind, wenn auch naiv, doch nicht ohne Ge-
schick dargestellt und allen Scenen ohne Ausnahme wohnt
der Charakter stiller Hoheit und würdevollen Ernstes inne.
Wie weit stehen hinter ihnen die meisten Erzeugnisse der
gleichzeitigen Buchmalerei und gar des Byzantinismus zurück,
wo selbst die tiefste Erregung in den starren, leblosen Ge-
stalten keinen Widerhall findet, die Glieder falsch und un-
motivirt gebildet und bewegt, die Gewände in conventioneller
Steifung oder verstandloser Knitterung uns entgegentreten und,
wenn dem Künstler keine älteren Vorlagen zur Verfügung stehen,
jede Fähigkeit der Gruppirung und einer freien, rhythmischen
Anordnung mangelt!

Auch in Hinsicht der Hintergründe ist die Anlehnung an
die Antike evident. Ein Castell, ein Thor, eine Arcade schliesst
das Bild ab: überall herrschen architektonische Formen, welche
an die römisch-italienische Kunst erinnern und zu denen die
Bauwerke unmöglich das Vorbild liefern konnten, welche die
Maler diesseits der Alpen vor sich sahen. Höchst charakte-
ristisch ist namentlich auf der Erweckung des Lazarus der
Teppich, mit dem die offene Arcatur, aus der der Herr heraus-
tritt, verhängt ist. Die Perspective freilich mit ihren Gesetzen
ist den Reichenauer Malern noch unbekannt gewesen, aber
sonst nimmt man doch eine grössere Unbefangenheit der Be-
obachtung und ein Streben nach Wiedergabe wirklicher Er-
scheinungen wahr; ich verweise vorzugsweise auf den Sturm
und auf den Hydropicus.

Kein verständiger Beurteiler wird, wenn es sich um den
Kunstwerth von Schöpfungen, wie der vorliegenden handelt,
Forderungen stellen und einen Massstab anlegen, wie sie sich
bei Gebilden grosser Kunstepochen von selbst verstehen. Hier
kann nur von einen relativen Kunstwerth gesprochen werden:
einen solchen aber nehmen wir für unsere Bilder in Anspruch
und wir wagen sie eine der lichtvollsten und edelsten Er-
scheinungen aus dem Jahrhundert zu nennen, welches in der
Geschichte den Namen des dunklen trägt.

VI.

Die altchristliche Kunst bethätigt sich im 2., 3. und 4. Jahr-
hundert vor allem in der Katakombenmalerei; im 4.
und 9. blüht die Sarkophagsculptur; von da ab stirbt die ältere
römisch-christliche Richtung allmälig ab. Die Mosaikmalerei,
welche zugleich mit der Blüte des Sarkophagreliefs uns bereits
im 4. Jahrhundert hochbedeutend entgegentritt, verfällt seit
dem 6. Jahrhundert mehr und mehr dem Byzantinismus. Viel
weniger aber, als man früher angenommen hat, sind diejenigen
Zweige der Kunst von letzterm beeinflusst, welche in der
zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends in den Vordergrund
treten: die Elfenbeinsculptur, die Buchmalerei und

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