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Baer, Franz; Kraus, Franz Xaver [Hrsg.]
Die Wandgemälde in der S. Georgskirche zu Oberzell auf der Reichenau — Freiburg im Breisgau, 1884

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https://doi.org/10.11588/diglit.7769#0032
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Das Bild des

Gekreuzigten.

hebung und Translation eines Heiligenleibes geordnet: die
Scene tritt hier evident an die Stelle der sonst eingeführten
Auferstehung. Klingt ja die nämliche Ideenverbindung noch
in dem grossen Wandgemälde Simone Martini's in der
spanischen Kapelle im Kreuzgang von S. Maria Novella zu
Florenz durch, wo oben in traditioneller Weise Christus auf
dem Regenbogen sitzt, von einer kreisrunden Aureola um-
flossen, unter dem Strahlenkranz die evangelistischen Zeichen,
rechts und links die Seraphim, unten zwar nicht das Gericht
mit seinen Schrecken, aber doch ein Schlussact desselben,
der Aufgang der Beseligten und ihr Empfang an der Himmels-
pforte erscheint.

VIII.

Wir wissen gegenwärtig, dass die Kreuzigung bereits seit
dem 5., sicher seit Anfang des 6. Jahrhunderts in der
christlichen Kunst dargestellt wurde. Hatte man früher die
Miniatur des syrischen Manuscripts von 586 in der Laurentiana
als ältestes Beispiel einer solchen Darstellung betrachtet, so
müssen die Elfenbeinplatte des British Museum und das Holz-
relief von S. Sabina in Rom jetzt als erste Exemplare dieser
von der altchristlichen Kunst gemiedenen Scene gelten1. Von
da ab ward dieselbe immer beliebter. Ihre regelmässige Stelle
in den Kirchen des Abendlandes hatte sie entweder am
Triumphbogen vor dem Chore oder ausserhalb der Kirche,
auf dem Kirchhofe, wie dies schon das dem Lactantius zu-
geschriebene, jedenfalls sehr alte Gedicht De passione Domini2
und zahlreiche andere Belege aussprechen3, wie wir es hier
in Oberzell gleichfalls an der, unserer Annahme nach ehedem
offen nach dem Cömeterium zu liegenden Westapsis vor uns
haben. Ich habe die Absicht nicht, die Entwicklung der
Kreuzigungsbilder hier nochmal vorzulegen. Es genüge hervor-
zuheben, dass die Behandlung unseres Bildes demjenigen ent-
spricht, was wir gegenwärtig über diese Darstellung für das
hier in Betracht kommende 11. Jahrhundert wissen. Die
Anordnung von Maria und Johannes neben dem Kreuze des
Herrn, Sonne und Mond über dem Querbalken des Kreuzes,
die Form dieses letztern selbst sind seit dem 6.—7. Jahr-
hundert üblich. Bis zum Ausgang des ersten Jahrtausends
wird der Herr meistens — keineswegs immer — mit langer
von dem Halse bis zu den Knöcheln herabwallender Tunica
gebildet: so sehen wir ihn noch zweimal im Codex Egberti,
wo auch die Schächer ein langes weisses Hemd tragen,
während diese sonst fast immer nackt erscheinen. Seit
dem 11. Jahrhundert dagegen begegnen wir auch dem Bilde
des Gekreuzigten meistens so, dass ein kurzer Schurz in
straffen Falten den Unterleib bis zu den Knieen bedeckt.
In der gothischen Periode wird dies Gewandstück nicht mehr
mit der alten conventionellen Strenge, sondern künstlerischer
und freier behandelt. Hände und Füsse sind auf den roma-
nischen Bildern mit Nägeln durchbohrt, die Füsse mit oder
ohne Fussbank neben, nicht übereinander gestellt; erst seit
Ende des 13. Jahrhunderts führt ein künstlerisches Interesse
die Uebereinanderlegung der Füsse herbei4. Unser Oberzeller
Bild zeigt die Füsse nebeneinander ohne Bank; der Zustand

1 Ich verweise für die Details auf den Art. Kreuzigung in meiner
Realencyclopädie der christl. Alterthümer 11.

2 De Passione Domini, bei Lact. Opp. ed. Bipont. 178G, II 445.
Vgl. Garrucci I 464f. 'Quisquis ades mediique subis in limina templi,

siste parum insontemque tuo pro criminc passum
respice me' u. s. f.

3 Alcuini Carmin., ed. Dümmler in Poet. lat. med. aev. Berol. 1881, p. 337:

Quisquis domum nostram veniens intrabis amicus,
ante tuos oculos aspice signa crucis u. s. f.

4 Für diese Details verweise ich auf meine Untersuchungen in Beitr.
zur Trierschen Arch. u. Geschichte. Trier 1868, I 18 f.

des Werkes lässt die Nagelspuren nicht mehr erkennen. Der
ziemlich kurze Schurz fällt straff ab und reicht kaum bis zu
den Knieen. Endlich entbehren die älteren Crucifixe im All-
gemeinens jeder Krone. Erst seit dem 12. Jahrhundert trägt
der Gekreuzigte eine Königskrone, viel später, gen Ausgang
des Mittelalters, die Dornenkrone. Beide fehlen unserm Bilde.
Die Modellirung des Leibes des Herrn ist noch entfernt von
der die innere Bewegung ausprägenden lebendigem Gestaltung
der Gothik, aber doch nicht so steif und leblos, wie die
rheinischen Crucifixe des 10. und 11. Jahrhunderts gewöhnlich
sind. Die auf der ADLERSchen Tafel unter den Kreuzbalken
sichtbaren runden Scheiben existiren auf dem Bilde nicht, das

hier einige Verletzungen zeigt.

* *

*

Und so nehmen wir Abschied von diesen Bildern in der
Hoffnung, dass es uns geglückt sein werde, ihnen ihre
Stellung in der kunstgeschichtlichen Entwicklung anzuweisen
und ihre historische und ästhetische Bedeutung klarzustellen.
Möge unsere Arbeit der Erhaltung und Restauration des ehr-
würdigen Denkmals zu gut kommen! Möge das Publicum
sich bewogen fühlen, bei aller Begeisterung für die Kunst der
Renaissance doch auch den bescheidenen Resten längst dahin-
geschwundener Jahrhunderte, den frühesten Ergüssen künst-
lerischer Inspiration unserer eignen Vorfahren seine Auf-
merksamkeit zuzuwenden! Wenn ich diese Gunst zunächst
und in erster Linie für die älteren Wandbilder des Innern in
Anspruch nehme, so hat doch auch das Gemälde an der
Westapsis sein volles Recht darauf.

Freilich: in ästhetischer Hinsicht trennt ein ungeheuerer
Abstand dieses einfache Bild von den grossartigen Schöpfungen
eines Orcagna, Signorelli und Michelangelo. Will man in Kürze
den Weg ermessen, welchen die Menschheit vom Jahre 1000
bis zum Zeitalter der Reformation zurückgelegt hat, so werfe
man einen Blick auf das arme Gemälde der Reichenau und die
Wand der sixtinischen Kapelle: der Vergleich sagt Alles.
Und doch, so erdrückend Michelangelo's Nähe für Alles ist,
was man mit ihm zusammenbringt: ich weiss nicht, ob die
Geschichte jenes bescheidenen Bildes auf der einsamen Insel
des Untersees nicht wenigstens religions- und culturgeschichtlich
werthvoller und kostbarer ist als diejenige des vielbewunderten
und verherrlichten Werkes in Rom. Zu diesem drängt sich
freilich seit drei Jahrhunderten die ganze gebildete Welt in
hellen Schaaren: ob es jemals eine Thräne getrocknet, ein
Herz erleichtert hat, ich weiss es nicht. Jene Malerei des
Reichenauer Mönches an der St. Georgskirche in Oberzell aber
— sie war gewiss jahrhundertelang die Stätte, wohin Tausende
der ganzen umwohnendezi alamannischen Bevölkerung ihren
Schritt lenkten: eine laute Predigt rief sie in die Wildniss
dieses Landes die Schrecken der göttlichen Gerechtigkeit, aber
auch den Trost der göttlichen Gnade hinein. Denn sie zeigt
nicht, wie das später, nicht ohne Fälschung des traditionellen
kirchlichen Gedankens, Signorelli und Michelangelo thaten, den
Christus, der der halben Welt zürnend seinen entsetzlichen
Blitz zuschleudert: sondern mitten in der Darstellung des
Schrecklichen thront milde und versöhnend das Bild des Ge-
kreuzigten: ein lebendiger Hinweis, dass nur Derjenige von
Christo und seinem Himmel ausgeschlossen ist, der sich
selber durch Verschmähung der Heilsgnade von ihm aus-
schliesst. Tausende haben, von der Reichenau in ihre
Berge und Wälder zurückwandernd, in stillem Gemüthe dem
unbekannten Maler für diesen Schatz des Trostes gedankt:
ehren auch wir die Stätte, welche unseren Vorfahren einst
weithin Licht und Frieden gespendet hat.

5 Ausnahmen kommen vor, wie der Crucifixus mit der Krone in dem
Evangcliarium von Niedermünster in München, s. Woltmann Gesch. d. Malerei
I 260, Fig. 71.
 
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