Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Bewegung: Zeitung d. dt. Studenten — 12.1944

DOI issue:
Nr. 3/4 (März/April 1944)
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6620#0027
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
DER STUDENT NIETZSCHE

Ein bisher unbekannter Bericht des großen Denkers über seine Leipziger Studentenzeit

„Es war am 17. Oktober 1865, als ich mit Freund Mushacke
auf dem Berliner Bahnhole in Leipzig anlangte. Wir zogen
zunächst planlos in die innere Stadt und erfreuten uns
der hochgethürmten Häuser, der beleblcn Gassen und des
regen Treibens. Dann ruhten wir uns in der Mittagszeit in der
Reisseschen Restauration (Klostergasse) aus und fanden es
hier leidlich, obwohl auch dieser Dunstkreis nicht frei von
schwarz-roth-goidnen Jünglingen war. Hier begann mein Stu-
dium des Tageblattes, das ich später regelmäßig in der Mit-
tagsstunde zu treiben pflegte. An jenem Tage notirten wir uns
die angebotenen Wohnungen, jene „anständigen" oder gar
„eleganten" Zimmer mit „Schlafkabinett" usw. Darauf schick-
ten wir uns an, straßauf, straßab, treppauf, treppab uns die be-
zeichneten Herrlichkeiten anzuschauen und fanden sie durch-
schnittlich über alle Maßen scheußlich. Welche Gerüche emp-
fiengen uns da, welche Ansprüche von Reinlichkeit setzte man
bei uns voraus! Genug, wir waren bald ärgerlich und mißtrau-
isch und folgten daher nur zaudernd einem Antiquar, der eine
Wohnung zu vermiethen hatte, wie sie uns passend erscheinen
würde. Schon dauerte uns der Weg zu lang, und wir wurden
müde, als er in eine kleine Seitengasse, die den Namen „Blu-
mengasse" trägt, Halt, machte, uns durch ein Haus durch
in einen Garten führte und in dem dort sich anschließenden
Gebäude eine kleine Stube nebst Kammer aufwies, die einen
freundlich zurückgezogenen Eindruck machte und sich für die
Behausung eines Gelehrten wohl eignen mochte. Genug, wir
wurden handelseinig: ich wohnte von jetzt ab bei dem Anti-
quar Röhn in der Blumengasse Nr. 4. Freund Mushacke fand
im Hause nebenan ein Unterkommen. Und zwar hatte ich, wie
wir später häufig bemerkten, bei dieser Wohnungswahl den
besseren Theil erwählt. An jenem Tage aber giengen wir nach
Beendigung unserer Geschäfte in das benachbarte Cafe und
tranken da in herbstlich schauriger Luft, aber doch noch im
Freien, unsere Nachmittagsschokolade, mit wartendem Herzen
über alles das, was sich an der neuen Stätte unseres Daseins
zutragen würde.

Immatrikulation im Anfang

Am andern Tage meldete ich mich auf dem Universitäts-
gericht; es war gerade ein Tag den die Universität durch eine
Festschrift und durch Doktorernennungen feierte, der Tag, an
dem vor hundert Jahren Goethe sich in das Album eingezeich-
net hatte.

Ich kann nicht sagen, wie erfrischend dieses zufällige Ereig-
nis auf mich wirkte; sicherlich war es ein gutes Omen für
meine Leipziger Jahre, und die Zukunft hat dafür gesorgt, daß
es mit Recht ein gutes Omen heißen konnte.

Der damalige Rektor Kahnis suchte uns gemeinsam Auf-
zunehmenden, die wir einen großen Kreis bildeten, deutlich zu
machen, daß ein Genie seine absonderlichen Bahnen gehe und
daß Goethes Studienzeit somit durchaus für uns nicht muster-
gültig sein solle. Wir erwiderten die Anrede des kugelrunden,
beweglichen Männchens mit einem verstohleneruLächeln und
reichten ihm ä,arquf. den üblichen Handschlag, Ii/dem sich der'
ganze Kreis an dem schwarzen Punkte vorbeischob. Später
empfiengen wir unsere Papiere.

Das erste fröhliche Ereignis war für mich das erste Auf-
treten Ritschis, der glücklich an seiner neuen Küste gelandet
war. Nach akademischer Sitte war er jetzt genöthigt, seine An-
trittsvorlesung öffentlich in der Aula zu halten. Man war all-
gemein hoch gespannt auf die Erscheinung des berühmten
Mannes, dessen Benehmen in den Bonner Affären seinen
Namen in die Zeitungen und in aller Mund gebracht hatte.
In reichster Fülle war darum die akademische Bürgerschaft
versammelt, aber auch zahlreiche Nichtstudenten standen im
Hintergrunde. Da kam er denn hineingerutscht in den Saal,
auf seinen großen Filzschuhen, im übrigen in tadellosem fest-
lichen Anzug mit weißer Binde. Heiter und aufgeräumt blickte
er sich in dieser neuen Welt um, und bald entdeckte er auch
Gesichter, die ihm nicht fremd waren. Indem er sich hinten
im Saale herumtrieb, rief er plötzlich: „Ei, da ist ja auch Herr
Nietzsche" und winkte mir lebhaft mit der Hand. Bald hatte
er einen ganzen Kreis um sich gesammelt, mit dem er auf
das Gefälligste plauderte, während der Saal sich mehr und
mehr füllte und die akademischen Würdenträger erschienen
waren. Da er dies merkte, stieg er mit Heiterkeit und Un-
befangenheit auf das Katheder und sprach seine schöne latei-
nische Rede über den Wert und Nutzen der Philologie. Sein
freier Blick, die energische Jugend seines Wortes, das behende
Feuer in seinem Mienenspiel riefen offenbar Staunen hervor.
Ich hörte, wie ein alter, gemüthlicher Sachse nachher sich aus-
sprach: „Ne, was der alte Mann für ein Feier hat." Auch in
der ersten Vorlesung im Auditorium Ni. 1 war die Menschen-
menge erdrückend. Er begann seinen Vortrag über des Aeschy-
lus Tragödie „Die Sieben von Theben", dessen wichtigsten
Teil ich mit angehört und nachgeschrieben habe.

Student sein, heißt selbst ringen!

Hier will ich gleich eine Bemerkung über meinen Collegien-
besuch machen. Da spricht denn vor Allem die Thatsache, daß
ich kein einziges vollständiges Collegienheft besitze, sondern
nur traurige Bruchstücke. Für diese meine Unregelmäßigkeit
empfand ich zeitweise Besorgnis und Unruhe, endlich aber gieng
mir auch hier die erlösende Formel auf. Im Grunde nämlich
zog mich bei den meisten Collegien der Stoff durchaus nicht
an, sondern nur die Form, in der der akademische Lehrer seine
Weisheit an den Mann brachte.

Die Methode war's, für die ich lebhafte Theilnahme hatte;
sah ich doch, wie wenig auf Universitäten Stoffliches gelernt
wird und wie trotzdem der Werth derartiger Studien allseitig
aufs Höchste geschätzt wird.

Da wurde mir deutlich, daß das Vorbildliche der Methode,
der Behandlungsart eines Textes usw. jener Punkt sei, von
dem die umschaffende Wirkung ausgehe. Also beschränkte ich
mich darauf, zu beachten, wie man lehrt, wie man die Methode
einer Wissenschaft in junge Seelen überträgt. Immer versetzte
ich mich in die Stellung eines akademischen Lehrers und gab
von diesem Standpunkte aus meine Zustimmung oder m3in
Verdikt zu den Bemühungen bekannter Dozenten. So habe ich
mich denn mehr beflissen, zu lernen, wie man Lehrer ist, als zu
lernen, was man sonst auf Universitäten lernt. Dabei hielt
mich immer das Bewußtsein aufrecht, daß es mir einmal nicht
an den Kenntnissen fehlen werde, die man bei einem Aka-
demiker beansprucht, und vertraute dabei der Eigenheit meiner
Natur, daß sie sich durch eigenen Trieb und nach eigenem
System das Wissenswürdige zusammenholen werde. Und meine

ORPHEUS UND EURYDIKE / Altgriechische Plastik

Es liegt im Zuge unserer heutigen materialisierten Zeit, daß unsere wissenschaftliche Ausbildung
sich immer mehr den nur realen Fächern zuwendet, also der Mathematik, Physik, Chemie usw.

So nötig dies für eine Zeit auch ist, in welcher Technik und Chemie regieren und deren wenig-
stens äußerlich sichtbarste Merkmale im täglichen Leben sie darstellen, so gefährlich ist es aber
auch, wenn die allgemeine Bildung einer Nation immer ausschließlich darauf eingestellt wird.
Diese muß im Gegenteil stets eine ideale sein. Sie soll mehr den humanistischen Fächern ent-
sprechen und nur die Grundlagen für eine spätere fachwissenschaftliche Weiterbildung bieten.

Es soll ein scharfer Unterschied zwischen allgemeiner Bildung und besonderem Fachwissen
bestehen. Da letzteres gerade heute immer mehr in den Dienst des reinen Mammons zu sinken
droht, muß die allgemeine Bildung, wenigstens in ihrer mehr idealen Einstellung, als Gegen-
gewicht erhalten bleiben.

.ADOLF HITLER

Erfahrung hat dies Vertrauen bis jetzt gutgeheißen. Als Ziel
schwebt mir vor, ein wahrhaft praktischer Lehrer zu werden
und vor allem die nöthige Besonnenheit und Selbstüberlegung
bei jungen Leuten zu wecken, die sie befähigt, das Warum?
Was? und Wie? ihrer Wissenschaft im Auge zu behalten.

Man wird nicht verkennen, daß in dieser Betrachtungsweise
ein philosophisches Element liege. Der junge Mann soll erst
in den Zustand des Erstaunens geraten. Nachdem das Leben
sich vor ihm in lauter Räthsel zerlegt hat, soll er bewußt, aber
mit strenger Resignation sich an das Wissensmögliche halten
und in diesem großen Gebiete seinen Fähigkeiten gemäß
wählen.

Begegnung mit Schopenhauer

Ich hieng damals gerade mit einigen schmerzlichen Erfahrun-
gen und Enttäuschungen ohne Beihülfe einsam in der Luft, ohne
Grundsätze, ohne Hoftnungen und ohne eine freundliche Er-
innerung. Mir ein eigenes, anpassendes Leben zu zimmern, war
mein Bestreben von früh bis Abend. In der glücklichen Ab-
geschiedenheit meiner Wohnung gelang es mir, mich selbst zu
sammeln, und wenn ich mit Freunden zusammentraf, so war

es eben mit Mushacke und von Gersdorff, die für ihren Theil
mit gleichen Absichten umgiengen.

Nun vergegenwärtige man sich, wie in solchem Zustande
die Lektüre von Schopenhauers Hauptwerk wirken mußte.
Eines Tages fand ich nämlich im Antiquariat des alten Röhn
dies Buch, nahm es als mir völlig fremd in die Hand und blät-
terte. Ich weiß nicht, welcher Dämon mir zuflüsterte: „Nimm
dir dies Buch mit nach Hause." Es geschah jedenfalls wider
meine sonstige Gewohnheit, Büchereinkäufe nicht zu über-
schleunigen. Zu Hause warf ich mich mit dem erworbenen
Schatze in die Sofaecke und begann jenen energischen, düste-
ren Genius auf mich wirken zu lassen. Hier war jede Zeile,
die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich
einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemüth in ent-
setzlicher Großartigkeit erblickte. Hier sah mich das volle,
interesselose Sonnenauge der Kunst an, hier sah ich Krank-
heit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle und
Himmel. Das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis, ja Selbstzer-
nagung packte mich gewaltsam; Zeugen jenes Umschwunges
sind mir noch jetzt die unruhigen, schwermüthigen Tagebuch-
blätter jener Zeit mit ihren nutzlosen Selbstanklagen und

März/April 1944 / Die Bewegung / Seite 3
 
Annotationen