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372
Die Rufen in Berlin.
Geſchichtsbild

W. Girſchner.

Die preußiſche Hauptſtadt, welche in den erſten
vier Jahren des ſiebenjährigen Krieges nur wenig von
den Drangſalen deſſelben zu leiden gehabt hatte, ſollte
endlich noch in hohem Grade davon betroffen werden.
Am 3. Oktober 1760, während Friedrich der Große
gegen die Oeſterreicher in Schleſien operirte, erſchien
mit einem Male und unerwartet der gefürchteiſte Feind,
die Ruſſen, vor ihren Thoren. Es war zunächſt der
Vortrab des nach Berlin entſandten ruſſiſchen Corps
unter dem General Tottleben angekommen, 3000 Mann
ſtark. Angſt und Beſtürzung verbreitete ſich bei dieſer
Nachricht unter den Berlinern. Hatten doch die ruſſi—
ſchen Generale bei ihrer Ankunft auf preußifchem Bo-
den bekannt machen Xafjen, daß in jeder eroberten
Stadt und Provinz den preußijdhen Unterthanen nichts
als Luft und Erde übrig. bleiben fjolle. Und wie
ſchrecklich hatten fie bereits Ddieje Drohung wahr ge-


Don Eſtanislao Figueras.

macht und ihre Spuren überall mit Mord und Brand
und Greueln aller Art bezeichnet!

Die ungeheure Königsſtadt ohne Wälle und Mauern
war nur mit 1200 Mann Garniſonstruppen beſetzt,
die faſt nur aus ausgedienten Leuten und Invaliden
beſtanden, und beſaß keine anderen Geſchütze als nur
zwei verroſtete Kanonen. Wie konnte man da an
Vertheidigung denken? Und doch beſchloß man, der
Aufforderung der Ruſſen, die Stadt zu übergeben,
ſich nicht zu fügen, ſie vielmehr bis auf den letzten
Blutstropfen zu vertheidigen. E83 waren namentlich
die in Berlin fih befindenden alten tapferen und
kampferprobten preußiſchen Heerführer: Der greife
General Kochow, Kommandant der Stadt, der achtzig-
jährige Feldmarſchall Lehwald und die ſchwerverwun—
deten Generale Seydlitz und Knoblauch, welche in
heldenmüthiger Erbitterung und edler Kampfbegier
dazu aufforderten.

Durch alle Straßen der Stadt ließen ſie Patrouil⸗
len marſchiren und unter Trommelwirbel alle waffen—


Heindes zu betheiligen. Und der Schredensruf: „der
Ruſſe iſt vor den Zhoren!“ [owie der alte erwachende
Nationalhaß gab felbjt den Feiglingen und Schwachen









Das Bud für Alle.

An Eohen in die Hand und verlieh ihnen Muth und
raft.

Indeſſen die weiſen Väter der Stadt und mancher
friedliche und ängſtliche Bürger mit ihnen, beeiferken
ſich, ihre Bürger von einem nutzloſen und verderblichen
Kampfe gegen einen Feind zurückzuhalten, der ihnen
dreimal überlegen ſei und ſich ſchwer für ihren Wider-
ſtand rächen würde. Die Kampfesluſt ward dadurch
nicht wenig herabgeſtimmt, die Reihen derjenigen,
welche dem Rufe zur Vertheidigung gefolgt waren,
begannen ſich zu lichten, und ſelbſt kühne und ent—
ſchloſſene Männer wurden wankend und kleinmüthig.

Da ſtellte ſich ein edler patriotiſcher Bürger den
Wankenden und Kleinmüthigen entſchloſſen entgegen,
riß ſie, ſelbſt ſich an die Spitze einer kampfesmuthigen
Schaar ſtellend, durch ſein begeiſterndes Wort ünd
Beiſpiel mit ſich fort, daß ſie ihrer Pflicht und ihrer
Mannesehre genügten.

Dies war der Kaufmann und Fabrikant Johann
Gotzkowsky, der Kröſus von Berlin, welcher eins der
größten und ſtattlichſten Gebäude in der Leipziger—
Straße bewohnte. Aus einem armen Knaben, der mit
zerlumpten Kleidern und bloßen Füßen an den Straßen-

ecken Berlins kauerte und ſein Stück erbetteltes Brod
verzehrte, hatte er ſich durch Fleiß, Klugheit und
Sparſamkeit zum reichen Manne emporgeſchwungen.
Er hatte in Berlin die erſten großen Fabriken ge—
ſchaffen — Sammt- und Seidenfabriken — und be—
ſchäftigte täglich Hunderte von Arbeitern; er war auch
der Erſte geweſen, der mit inländiſchen Stoffen die
Leipziger Meſſe bezog. Die Theilnahme und der hilf—
reiche Beiſtand Friedrich's des Großen hatte ihm bei


friedenheit war ſein Sporn geweſen, und ſo war er
ein glühender Verehrer des großen Königs geworden.
Die Größe ſeines Reichthums mag man daraus er—
ſehen, daß er Friedrich für 300,000 Thaler Bilder
in Italien gekauft hatte, ohne bis jetzt dieſe Summe
wieder erhalten zu haben, und dennoch im Stande
war, eine Proviantlieferung für ihn für acht Millio—
nen Thaler. zu übernehmen. Mit Tugenden, Fähig—
keiten und ſtarkem Muthe ausgerüſtet, war er durch
ſeinen Reichthum in den Stand geſetzt, den edelſten
Gebrauch von dieſen glänzenden Eigenſchaften zu
machen. So ward er nicht nur der Schutzgeiſt Ber—
lins in der jetzigen Bedrängniß, ſondern übte auch
Einfluß auf den ganzen Krieg, ein Bei—





Heft 16.

ſpiel, wieviel in bedrängten Umſtänden der gute Wille
und die Klugheit eines Mannes vermag. —

Mit Waffen aus dem Zeughauſe verſehen, ſtrömten
jetzt, von Gotzkowsky auf's Neue angefeuert, kampfes-
luſtige Schaaren von Männern, Jünglingen und Grei—
ſen nach dem Dresdener und dem Kottbuſſer Thore,
vor denen die Ruſſen ſtanden. Auf die abgefchlagene
Aufforderung eröffneten die letzteren noch am Tage
ihrer Ankunft ein heftiges Bombardement mit Feuer:
fugeln und Haubibengranaten gegen die Stadt, in
welcher hier und da die Flammen brennender Häuſer
empor|Ohlugen, und jene Thore wurden Heftig von ihnen
beſtürmt. AWber dennoch fank den wackeren Kämpfern
an den dort errichteten Schanzen und Palifjaden nicht
der Muth. Wurden fie doch geftärft durch das edle
Beiſpiel der ſchon genannten ruhmgekrönten Heerfüh—
rer, die, ihres Ranges vergeſſend, hier die Dienſte eines
gemeinen Soldaten verrichteten, und von denen ſich
der General Seydlig, den feine Berwundung am Gehen
hinderte, auf einer Iragbahre zur Batterie des Rott:
buſſer Thores hatte bringen laſſen, um hier wenigſtens
die VBertheidigung zu leiten, Und mit heldenmüthiger
Tapferkeit [Hlugen fie wiederholt den Sturm zurück.







Don Criſtino Martos. (S. 370)

Auch die Feuersbrünſte wurden bald wieder gelöſcht.
Die Ruſſen mußten endlich den Sturm aufgeben.

Am folgenden Tage nahte Hilfe, und mit Jubel—
geſchrei ward von den Berlinern die Kunde begrüßt,
daß der Prinz von Württemberg mit ſeinem 5000
Mann ſtarken Corps ſoeben von Paſewalk eingetroffen
ſei, und General Hülſen ſich von Coswig her nahe.
Erſterer war neun Meilen in einem Tage marſchirt.
Man begrüßte ihn wie einen vom Himmel geſandten
Erretter, und ſeine ermatteten Truppen wurden in den
Räumen des neuen ſchönen Opernhauſes, welches der
König erſt vor kurzer Zeit Hatte bauen laſſen, von der
Bürgerſchaft mit Bier, Fleiſch und Wein bewirthet.
Gotzkowsky war einer der Thätigſten geweſen, dieſes
Gaſtmahl des Patriotismus in der Geſchwindigkeit
herzurichten, und hatte ſelbſt nicht nur bedeutende
Geldſummen, ſondern auch die beſten Weine aus ſei—
nem Keller dazu hergegeben.

Als ſich ſeine Truppen ein wenig erholt hatten,
griff der Prinz die Ruſſen an und trieb ſie bis Köpe—
nick zurück.

Die Berliner athmeten neu auf nach ſo viel Stun—
den des Schreckens und der Angſt. Allein die Ruhe
war von nur kurzer Dauer. Der ruſſiſche General


 
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