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Hrst

Kingston hinter unS, so begannen sich die ersten Vor-
boten eines starken Umschwungs zu melden. Das
Wetter kam langsam herauf, so langsam, daß wir
genügend Zeit fanden, unsere Vorbereitungen zn treffen.
Erst am vierten Tage nach der Abfahrt von King-
ston brach der eigentliche Sturm los. Schvu am
Abend vorher war das Barometer rasch gefallen,
wir hatten indessen immer noch eine mäßige Brise,
die uns sechs bis acht Meilen in der Stunde vor-
wärts brachte. Uni Mitternacht stand der Wind Plötz-
lich ganz still, gegen Morgen aber drehte er nach
Südwest und begann sich von Stunde zn Stunde zn
verstärken; Regen und Hagel prasselten in vereinzelten
Schauern hernieder, das Schiff schoß aber immer noch,
wenn es auch in tiefem Winkel über Steuerbord lag,
geradeaus weiter. Mit Anbruch der Nacht wurde die
Situation gefährlicher. Der Orkan erwachte, die Lee-
seite des Zieh' lag bis über die Luken im Wasser und
die Wellen peitschten unaufhörlich über Deck, Alles,
was nicht angcfestet war, mit sich hinabreißend. Den-
noch Hütten wir den Muth nicht verloren, wenn der
Orkan sich nicht gegen den folgenden Mittag hin in
einen ungeheuren Wirbelsturm, eine Art Taifun, wie
er uns selbst in den ostindischen Gewässern nicht ärger
hätte überraschen können, verwandelt hätte. In der
uns umtosenden Kreuzsee wurde der ,Ney' bald über
Backbord, bald über Steuerbord geworfen, bald wie
eine Feder im Kreise umher gewirbelt. An ein Kurs-
halten war nicht mehr zu denken. Bereits drei Leute
von der Stenerbcdiennng waren in die Lee gerissen
worden. Am Abend des 19. zeigte das Barometer
seinen tiefsten Stand und begann dann wieder lang-
sam zu steigen, trotzdem aber nahm der Sturm eher
zn, als ab. Gegen ein Uhr des Nachts schlug eine
Sturzwelle das Obcrlichtfcnster ein und im Augenblick
stand auch die erste Kajüte unter Wasser. Die meisten
Pumpen waren bereits zerbrochen, an den intakt ge-
bliebenen wurde rastlos gearbeitet, aber gegen die im-
mer weiter nm sich greifenden Zerstörungen der wüthen-
den Wellen ließ sich nicht ankämpfcn. Die Maschine
arbeitete nicht mehr, die Propellerschraube war be-
schädigt, von allen Segeln war nur eines übrig ge-
blieben. Langsam begann das Schiff inmitten der
Strudel zu sinken — man mußte an die letzte Rettung
denken. Von den sechs Booten war zwar noch eins
seefest, aber cs bot nur Platz für sechzehn Mann. Der
Kapitän versammelte uns nm sich, dann wurden die
Sechzehn, denen das Boot überlassen werden sollte,
ausgeloost; die klebrigen legten die Rcttungsgürtcl um
und ergaben sich in das Unvermeidliche. Die Todes-
gefahr war übrigens für beide Theile gleich groß, für
die Vierunddreißig im sinkenden Schiffe, wie für uns
Sechzehn im Boote. Obwohl die Heftigkeit des Stur-
mes entschieden nachznlassen begann, ging die See doch
immer noch so hoch, daß unsere Nußschale jeden Mo-
ment in die Tiefe gezogen werden konnte. Steuern
und rudern war vollkommen überflüssig, wir mußten
uns ganz dem Getriebe der Wellen überlassen. Es
dauerte keine Viertelstunde, da hatten wir den .Mar-
schall Ney' aus den Augen verloren, rings um uns
her lag eine öde Wasserwüstc, über uns aber begann,
ein Hoffnungsstrahl in der Verzweiflung, das Wolken-
dach sich langsam zu zcrtheilen, so daß der blaue Him-
mel hindurchschimmerte. Am Morgen hatte der Sturm
sich gelegt, doch schon nach einigen Stunden tanchte zu
unserem namenlosen Schrecken ein neues dunkles Wetter
am Horizonte auf. Wir wären, obwohl der abermalige
Tanz bei Weitem nicht so furchtbar war, als der, dem
wir glücklich entronnen, verloren gewesen, hätten, wir
am Nachmittage nicht den ,King Edward', einen Dam-
pfer der Orientlinic, in Sicht bekommen, der uns auf-
nahm. Nun waren wir geborgen. Trotzdem der .King
Edward' einen starken Abstecher vom ° Kurse machen
mußte, versuchte er doch noch, auch die Insassen des
,Ney' zu retten. Wir kamen aber zu spät; der zweite,
wenn auch schwächere Sturm mußte das Sinken des
Zieh'beschleunigt haben, wir sahen nur einzelne Trümmer
auf den Wellen treiben, das mastlose Wrack richte ans
dem Grunde des Meeres... Im Hafen von Madeira
nahm uns ein französischer Dampfer auf, der uns in
Marseille abliefcrte. — So weit der Bericht des
Matrosen. Spätere Meldungen haben bestätigt, daß
die vierunddrcißig auf dem Meist Zurückgebliebenen,
unter ihnen der Kapitän Vuiton, den Tod in den Wogen
gesunden haben. Von den Kajütcnpassagieren des Zieh'
wurden nur drei: Herr Francois Element aus Lille,
Frau du Pinaud aus Marseille und Herr William Lupo
aus Kingston auf Jamaika gerettet."
Im Anschluß an diesen, auch von ihm wieder-
gegebenen Bericht über den Untergang des „Marschall
Vieh" veröffentlichte ein Frankfurter Blatt unter dem
10. November des gleichen Jahres folgende Aufsehen
machende Mittheilnng:
„Unsere Leser erinnern sich vielleicht noch der That-
sache, daß sich unter den sechzehn Geretteten bei dem
Unglück, das den französischen Dampfer Meist unlängst
betroffen, auch ein Herr William Lupo aus Jamaika
befand. Sie erinnern sich ferner Wohl noch daran,

Das Buch für Alle.

daß unser verstorbener Mitbürger, der Rentier August
Liestmann, seine Millionen laut testamentarischer Ver-
fügung den Anarchisten in der Schweiz vermacht hatte,
ein Testament, welches jedoch gcrichtlicherseits nm-
gestoßen wurde. Das ganze rüstige Vermögen wäre
nun wahrscheinlich als erbloses Gut dem Fiskus über-
wiesen wurden, wenn sich nicht noch zur rechten Zeit
ein erbberechtigter Verwandter Liestmann's in Gestalt
eben jenes erwähnten William Lupo aus Jamaika vor-
gefunden hätte. Lupo, der sich in Kingston, wo er ein
blühendes Geschäft betreibt, auf dem Marschall Ney'
cingeschifft hatte und der bei der schrecklichen Kata-
strophe, welcher das Schiff anhcimgefallcn, .glücklich
mit dein Leben davongekommen ist, befindet sich gegen-
wärtig in unserer Stadt, um seine Erbschaft zu erheben.
Der bekannte Rechtsanwalt Doktor Karl Edlingcr ist
mit der Führung seiner Angelegenheit beauftragt wor-
den, deren Abschluß übrigens, da Mr. Lupo zur Jden-
tifizirung seiner Persönlichkeit mit ausreichenden Legi-
timationen und Vollmachten versehen ist, keinerlei Hin-
dernisse im Wege stehen."
Sechstes Kapitel.
Verschollen.
Im Salon der Madame Bulikoff schien sich binnen
Jahresfrist nichts verändert zu haben. Alle Möbel
standen ans dem gleichen Platze wie früher, und noch
immer tickte die Standuhr aus schwarzem Marmor von
der aus Ebenholz geschnitzten Karyatide herab, die am
dunkelsten Fensterpfcilcr angebracht war und den Zeit-
geist darstellcn sollte.
In der Mitte des Zimmers richte Clelia in nach-
lässiger Haltung auf einem Halbdivan, der vor ein
stufenförmig sich aufbauendes Blumenarrangement ge-
schoben war.
Auch Clelia war dieselbe geblieben. Vielleicht lag
eine noch hellere Blässe auf ihren reinen und stolzen
Gesichtszügen, und vielleicht hatte der melancholische
Zug um den vollen Mund sich ein wenig mehr ver-
tieft — ihre schlanke, ebenmäßige Gestalt war elastisch
wie sonst und ihre Stimme tönte immer noch so me-
tallen, wie voller Glockcnton.
In aufrechter Haltung, die Rechte gegen einen Sessel-
rücken gestemmt und in der Linken den Hellen Seiden-
hut tragend, elegant vom Scheitel zur Sohle, vornehm
nnd ritterlich in jeder Linie seiner Erscheinung, stand
Basil Laczarowski vor ihr. Ans seiner Stirn lagen
tiefe Schatten, nnd die heftige Art, in der er die Worte
hervorstieß, ließ ans arge innere Verstimmung schließen.
In solchen Augenblicken, in denen der Pole den Welt-
mann rücksichtslos von sich streifte, um den Fanatiker
durchbrechen zu lassen, hatte er etwas Abstoßendes
an sich.
„Lassen Sie Ihre ironischen Bemerkungen bei Seite,
Clelia," sagte er mit finsterer Miene; „sagen Sie mir
lieber ehrlich die Wahrheit, warum Sie sich seit sechs
Wochen nicht in den Versammlungen gezeigt haben."
„Soll ich Ihnen denn bis zur Ermüdung wieder-
holen, daß mir die ewigen Phrasen Ihrer Drahtpuppen
anfangen, unsäglich zuwider zu werdend" entgegnete
Clelia mit vor Verachtung zuckenden Lippen. „Seit
ich genaueren Einblick in die Geheimnisse dieser er-
bärmlichen Gesellschaft genommen habe, und seit ich
weiß, daß die treibenden Faktoren derselben nicht ein-
mal toller Fanatismus, sondern nur niedrigster Eigen-
nutz sind, seitdem regt sich Ekel gegen dieses Getriebe
in mir. Marat, Robcspierre nnd St. Just waren
Helden gegen Euch, Ihr steht mit den Taschendieben
und Bauernfängern der Großstädte auf einer Stufe,
denn auch Euch ist cs uur um den Raub zu thuu!"
Laczarowski lachte leise auf, aber der ohnmächtige
Grimm sprühte dabei aus seinen Augen.
„Das war ein akademischer Vortrag, der auf einen
weniger abgehärteten Zuhörer, als ich es bin, sicher
Eindruck gemacht Hütte. Leider Gottes kenne ich bereits
die immer wiederkehrenden Spitzen Ihrer Anklagen,
nnd diese beständigen Wiederholungen ermüden mich
ebenso sehr, wie Sie, meine Verehrtest«:, die ewig glei-
chen Phrasen meiner .Drahtpuppen'! Trotzdem will
ich Sie in Ihrem Vergnügen, Reden zu halten, nicht
behindern; es ist im Gegentheil ganz gut, wenn die
elektrische Batterie voll Groll, Haß nnd Verachtung
in Ihnen von Zeit zu Zeit — entladen wird. Nur um
das Eine ersuche ich dringend und höflichst: Wahlen
Sie als Ableitcr niemand Anderes als mich, cs könnte
Sie gereuen!"
„Drohungen — wie gewöhnlich!" Clelia legte den
schönen Kopf zurück, und ihre Oberlippe wölbte sich
hohnvoll, so daß die schimmernden Zahnreihen sichtbar
wurden. „Sie sollten wissen, daß derartige Drohungen
bei mir nicht mehr verfangen, daß die Zeit, da ich
mich vor Ihnen fürchtete, vorüber ist. Was Wünschen
Sie eigentlich noch von mir, Basil? Die größere
Hälfte meines Vermögens habe ich Ihnen, oder dem
Dämon, dein Sie dienen, bereits geopfert, gclüstet's
Sie auch nach dein Rest? Gut, ich bin einverstanden.
Lassen Sie uns einen Pakt schließen: ich gebe Ihnen

Alles, was ich noch besitze, Alles, auch mein Geschmeide,
meine Juwelen, geben Sie mir als Ersatz dafür nur
Eines, meine Freiheit! Ich will als Bettlerin von
Ihnen scheiden, aber ich will frei sein!"
Ein Blitz hämischen Triumphes flammte in Lacza-
rowski's Ange auf. Er wandte der Sprechenden halb
den Rücken zu, schüttelte wie in ärgerlicher Erregung
den Kops und ließ dabei spielend den dunklen Schnurr-
bart durch die Finger gleiten.
„Ah bah," entgegnete er dann Plötzlich in weg-
werfendem Tone, „das sind Redensarten! Bin ich denn
Ihr Herr, Ihr Gebieter, sind Sie vielleicht meine
Sklavin? Dürfen Sie nicht Ihr Leben genießen, wie
Sie wollen, behindere ich Sie in Ihren Entschlüssen?
Meines Wissens sind Sie so frei und so ungebunden,
wie selten eine Frau Ihrer Stellung nnd Ihrer Er-
ziehung, und meines Wissens nutzen Sie diese Un-
gebundenheit auch nach jeder Richtung hin aus."
Eine häßliche Bosheit klang aus diesem versteckten
Vorwurfe heraus. Clelia zuckte zusammen und ihre
Hände ballten sich. Einen Augenblick überlegte sie, ob
sie nach der Klingel greifen und den Buben vor ihr
durch den Bedienten vor die Hausthüre befördern lassen
sollte. Damit wäre das eigcnthümliche Verhaltniß,
in dein sie zu Laczarowski stand, allerdings mit einem
Schlage gelöst gewesen — ein Zittern durchschauerte
ihren Körper: sie fürchtete doch die Rache des Elenden.
Der Muth, den die freche Art Basil's in ihr entfacht
hatte, war wieder gebrochen, sie senkte von Neuem
dcmüthig den Kopf.
„Soll das Spott sein," fragte sie klagend, „oder
nennen Sie in allem Ernste die Abhängigkeit, in der
ich mich befinde, Freiheit? — Freiheitgroßer Gott!
In jeder Rede, die Ihr neuen Weltverbesserer haltet,
in jeder Flugschrift, die Ihr unter die Leute streut,
kehrt dies gemißbrauchtc Wort Wohl hundertmal zurück,
und doch geht Euer ganzes Streben auf Knechtung
des Geistes und der Persönlichkeit hinaus! Glauben
Sie denn, Basil, ich sei mir nicht längst darüber klar-
geworden, was Sie bewogen hat, mir vor drei Jahren
Ihre unselige Freundschaft anzutragen? Sic waren
es, der mich zu einer schmählichen That, die ewig mein
Gewissen belasten wird, überredete, nur um als Mit-
wisser jener That mich für alle Zeiten in Ihrer Ge-
walt zu behalten. Nicht ich selbst, nicht meine Schön-
heit lockte Sie, sondern mein Geld! Deshalb stahlen
Sie mir meine Freiheit, meine persönliche Unabhängig-
keit, deshalb machten Sie mich zu einer willenlosen
Puppe!"
Das seidene Taschentuch, das Clelia in den Fingern
hielt, knitterte hörbar. Laczarowski schien jedoch die
gereizte Stimmung der schönen Frau gar nicht zu
beachten. Er hatte die cynische Gleichgiltigkeit, mit
der er sich über Alles im Leben hinwegsetzte, längst
wiedergcwonnen und antwortete daher mit dem unan-
genehmen Lächeln, das ihm eigen war, kurz: „Die
Ansichten über individuelle Freiheit sind eben verschie-
den. Wenn ich mich in besonderem Maße um Sie
bekümmere und Sie stets beobachten lasse, so geschieht
dies zu Ihrem eigenen Besten, wie auch zum Besten
unseres Bundes, dem Sie — ginge es nach Ihnen —
in jeder Weise entgegen arbeiten würden. Daß ich als
Chef der Sektion dies Letztere aber nicht dulden darf,
liegt auf der Hand. Die niederträchtige Betrügerei
Erich's hat uns schon schwer genug geschädigt."
Bei Erwähnung des Namens „Erich" erhob Clelia
interessirt den ans die Hand gestützten Kopf und ein
leichtes Roth huschte dabei über ihr Gesicht.
„Hat mau nie wieder etwas von ihm gehört?"
fragte sie.
„Ei, ei, meine thenrc Clelia," höhnte Laczarowski,
„übt der Klang dieses Namens noch immer die atse
Wirkung auf Sie aus? Wahrhaftig, man sollte glau-
ben, die verleumderischen Zungen, die da behaupten,
Sie wüßten um Erich's Aufenthalt ebenso, wie nm den
ganzen Schurkenstreich, den er gegen uns verübt hat,
hätten so Unrecht nicht!"
„Ich lasse Ihnen gern diesen Glauben," entgegnete
Clelia kaltblütig, „es bedrückt mich nicht, daß Sie
schlecht von mir denken, und nm die Klatschereien
Ihrer werthen Genossen kümmere ich mich auch nicht!
Im Uebrigen wissen Sie, daß zu meinen wenigen
Tugenden auch die der Wahrhaftigkeit gehört; ich tog
nicht, als ich Ihnen seiner Zeit versicherte, ich hätte
von Erich seit seinem Abschiede aus Genf kein weiteres
Lebenszeichen erhalten. Daß ich mich für die Angelegen-
heit interessire, sei es auch uur ans Schadenfreude^ ist
wohl natürlich; leider haben Sie mit Ihren Mit-
theilungen darüber sich immer etwas kürz gefaßt!"
Basil dachte einen Augenblick nach.
„Nun gut," sagte er dann, „ich will Ihre Neugier
befriedigen, vielleicht wissen Sie besser nnd schärfer zn
koinbiniren, als ich, und können mir auf die Spur des
Entflohenen helfen. Sie kennen die Thatsache, daß
Erich unter dem Namen eines Rechtsanwalts Gardcr
ans Frankfurt am Main und mit den Papieren eines
solchen versehen nach Jamaika abreiste, um dort die
Erben unseres Freundes Liestmann aufzusucheu. Dem
 
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