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258

Zeichen des Erfolges dazu veranlaßt hätten. Sci's wie
es sei, Noccra ist nicht mehr in Neapel, wir können
uns also nur an Diejenigen halten, vor denen der
schlaue Advokat Miß Mabel gewarnt hat, von denen
er also zweifellos fürchtete, daß sie ihm in's Handwerk
pfnschcn würden. Es sind dicS drei Persönlichkeiten,
mit welchen Erich Garder dereinst mehr oder weniger
intim verkehrte, Persönlichkeiten, die ganz bestimml
denn alle Anzeichen sprechen dafür — nm das Ver-
brechen wissen und die jenes uncrklürbare Etwas, das
wir Zufall nennen, weil uns eine treffendere Bezeich-
nung für das Walten des Geschickes fehlt, hier in
Neapel zusammengeführt hat. Ter erste dieser Drei
ist ein polnischer Abenteurer, Basil v. Laczarowski mit
Namen. Ich hatte Gründe, mich selbst schon nach
diesem Mann umzuthuu, mußte aber leider erfahren,
daß er irgend eines Vergehens halber in das Gefäng-
nis; gesteckt worden war; daraus ist er entflohen und
seitdem verschollen. Die zweite Persönlichkeit, die Nv-
cera der Miß Mabel anführte, ist eine stadtbekannte
Schönheit, Madame Clelia Bnlikoff, geborene Mar-
anise Bentivcuti; die dritte endlich ein zweifelhaftes
Subjekt, das sich Conte Emilio Saccone nennt. Bevor
ich Ihnen die Erkundigungen, die ich über die Letzt-
genannten eingezogen habe, wiedergcbe, muß ich Sie
zunächst genauer über das, was der Advokat Nocera
der Miß Lupo in Bezug auf die Entstehungsgeschichte
des gegen sie und ihren Bruder verübten Verbrechens
mitgetheilt hat, informiren."
Mr. Dalton legte seine große weiße Hand auf die
Schreibtischplatte, gewissermaßen als Zeichen, daß er
sich eine Zwischenfrage erlauben wolle.
„Pardon, Herr v. Jllburg," sagte er, „eine kleine
Unterbrechung, die aber zur Sache gehört. Würde cs
Ihre Ausführungen nicht verständlicher gestalten, wenn
Sie den angenommenen Namen des Verbrechers, den
wir suchen, fallen ließen und ihm seinen wahren Namen
gäben?"
Egon warf die Korkfcder, die er spielend zwischen
seinen Fingern bewegt hatte, von sich. Auf seiner Stirn
erschien ein dunkelrother Neck. Er blickte nicht ans,
während er mit harter und klangloser Stimme erwic-
dcrte: „Nein. Wir wollen auch künftighin den Ver-
brecher nie anders nennen, als Erich Garder. Seinen
ehrlichen Namen hat er verwirkt. Der Mann ist meines
Vaters erstgeborener Sohn, mein Bruder. — Nun wissen
Sie, Mr. Dalton, warum ich ihn den Gerichten ent-
ziehen und allein auf die Wege des Guten zurückführen
will."
Die Augen Mr. Dalton's vergrößerten sich und auf
feinem Antlitz malte sich der Ausdruck eines ungeheuren
Erstaunens ab. Aber wie das ganze Benehmen dieses
Mannes, so war auch sein Erstaunen erheuchelt, denn
in Wahrheit wußte er längst, daß Erich Garder mit
seinem wirklichen 'Namen Erich v. Jllburg hieß.

Egon war den Tag über für Niemand zu sprechen
gewesen; er hatte sich eingcschlossen, und auch Wanda,
die mit ihm über einige nichtige Gesellschaftsfragcn
unterhandeln wollte, hatte keinen Einlaß bei ihm ge-
funden.
Erst in später Stunde — cs dämmerte bereits —
verließ Egon sein Zimmer, stieg die nach der oberen
Etage führende Treppe hinauf und klopfte an die Thür
des Gemaches, das Mabel bewohnte.
Mabel öffnete ihm. Sie sah verweint und an-
gegriffen aus, doch huschte ein freundliches Lächeln über
ihre verhärmten Züge, als sie Jllburg entließ.
„Ich habe nur wenige Worte mit Ihnen zu sprechen,
Miß Lupo," sagte Egon, „und da ich nicht wollte, daß
Sie erst durch den Diener belästigt wurden, so erlaubte
ich mir selbst, Sie aufzusuchen. Verzeihen Sie die
Störung."
Mabel entgegnete ein artiges Wort und trug einen
Stuhl herbei, auf dem Jllburg sich mit müder Be-
wegung niederließ. Sein Blick glitt flüchtig durch das
kleine Gemach. Es war dasselbe Zimmer, das Mabel
bereits in der ersten Nacht, die sie in der Villa zu-
gebracht, bewohnt hatte, ein traulich behaglicher Raum,
von dessen Fenster aus man den ganzen Park über-
sehen konnte. An der Wand, dem Platze Egon's gegen-
über, hing ein Bücherbrett mit den Werken englischer
Klassiker; unter diesem, auf einem schmalen Tischchen,
stand eine eingerähmte Photographie.
„Das ist Ihr Bruder, nicht wahr?" fragte Egon,
indem er aufstand und das Porträt in die Hand nahm.
Mabel nickte stumm.
Jllburg lehnte sich an das Fensterbrett und be-
trachtete aufmerksam das Bild William's. Sein Antlitz
wurde dabei noch weißer und ein tiefer Schmerz prägte
sich auf seinen Zügen aus. Als er die Photographie
Wieder auf ihren Platz zurückgestellt hatte, strich er sich
über die Augen, ehe er sich von Neuem an Mabel
wandte. Er streckte ihr beide Hände entgegen.
„Zunächst meinen innigsten Dank für die Herzens-
güte, die Sie mir auch während jener furchtbaren Unter-
redung mit Mr. Dalton bewiesen haben, Fräulein
Lupo," sagte er mit stark bebender Stimme. „Was ich

DaZ Buch für All c.
in dieser Stunde gelitten, das weiß nur Gott allein,
Ihnen aber, Miß Mabel, danke ich es, daß ich den
Glauben an die Menschheit noch nicht völlig verloren
habe. Als Sie dem Polizisten gegenüber den unseligen
Verbrecher, der Ihren Bruder mit frevelnder Hand
erschlagen und Sie zur Bettlerin gemacht hat, zu ver-
thcidigen versuchten, da sah ich cs Ihnen an, wie
schwer es in Ihnen kämpfte; waren auch Ihre Lippen
beredt und hatten Sie auch den heroischen Muth, sich
aufrecht zu erhalten, trotzdem die Enthüllungen Dal-
ton's Sie fast zu Boden schmetterten. Sie suchten nach
vertheidigcnden Worten für den Zerstörer Ihres Glückes
und Ihres Seelenfriedens, nicht, weil Sie aus innerster
Uebcrzeugung an die Möglichkeit seiner Unschuld glaub-
ten, sondern weil Sie wichsten, daß jener Elende mein
Bruder ist. Ich kann nach den Erfahrungen des heu-
tigen Tages nicht erwarten, daß Sie noch länger in
meinem Hause verweilen, wohin Sie sich aber auch
wenden mögen, ich schwöre Ihnen, Mabel, daß ich
allezeit Ihr bester und aufrichtigster Freund sein und
bleiben, und Alles anfbieten will, nm Ihnen Ihr ein-
sames Dasein verschönen zu helfen und um zu ver-
suchen, wenn auch uur theilwcise, das Verbrechen meines
Bruders zu sühnen. Deu Lodten kann ich nicht wieder
znm Leben erwecken und den Bruder vermag ich Ihnen
nicht zu ersetzen, so will ich denn wenigstens thun, was
in meiner Macht steht, Ihnen das Leben äußerlich
sorgenfrei und glücklich zu gestalten."
Mabel hatte ihre Hände in denen Jllburg's gelassen,
lieber ihre Wangen strömten die Thräncn, doch aus
ihrem dunklen Auge war Trauer und Schmerz ver-
schwunden.
„Danken Sie mir nicht," erwicderte sie zitternd,
„denn nur ich habe Ursache, Ihnen dankbar zu sein.
In Güte und Liebe haben Sie sich meiner angenom-
men, als ich dem Elend und der Hilflosigkeit Preis-
gegeben war, das werde ich niemals vergessen! Nie-
mals — und gerade heute weniger denn je! Weisen
Sie mich aus Ihrem Hause, so will ich gehen, wenn
auch traurigen Herzens, aber ich bitte Sie innigste
lassen Sie mich hier, hier, wo ich eine zweite Heimath
gefunden habe! Sorgenloser und glücklicher kann ich
nicht sein, als an der Seite Bruno's — o, wie sehr
würde ich sein Lächeln und seine süße, kindliche Zärt-
lichkeit vermissen!"
Jllburg war tief bewegt. Dies wunderbare Mädchen
vor ihm gab ihm die Harmonie seiner Seele wieder,
ihre Worte zogen wie goldiger, erwärmender Sonnen-
schein durch sein zerquältcs Herz.
„Sie wissen nicht, wie Wohl Sie nur thun, Mabel,"
sagte er voll Rührung. „Ihre große, überwältigende
Güte richtet mich von Neuem ans, sie beseligt mich
wahrhaft. Und doch muß ich Ihnen noch einmal zu
bedenken geben, ob Ihnen der fernere Aufenthalt in
meinem Hause nicht unsagbar schwer fallen wird. Sie
lieben meinen Knaben, und das macht mich glücklich,
aber werden Sic es ertragen können, mich, den Bruder
jenes Erich Garder, der so vernichtendes Unheil über
Sie gebracht, täglich um sich zu sehen?"
„Fällt auch nur ein winziger Schatten der That
Garder's auf Sie zurück?" fragte Mabel einfach.
„Und bleiben Sie auch bei Ihrem Entschlüsse, wenn
ich Ihnen sage, daß ich Mr. Dalton für mich gewon-
nen und die Absicht habe, in Gemeinschaft mit ihm
den Aufenthaltsort meines Bruders auszukundschaften,
nicht, um diesen der strafenden Gerechtigkeit zu über-
geben, sondern um ihn ihr zu entziehen?"
Mabel kreuzte die Hände über der Brust und ihr
Auge blickte tief in das Egon's hinein.
„Mcin Herz dürstet nicht nach Rache," sagte sie.
„Ich werde den Tag segnen, an dem Sie Ihren Bruder
gefnnden haben, und werde zu Gott bitten, daß er seine
Seele läutern möge."
Ein Gefühl hoher Weihe überkam Jllburg. Er
drückte noch einmal die Hände Mabclls und schaute
mit leuchtendem Blicke zu ihr hinab.
„Sie verdienen das reinste Glück auf Erden," cr-
wicderte er voll wahrhafter Bewunderung.
Wenige Stunden später betrat Mr. Dalton, der
Geheimpolizist, das ihm angewiesene Zimmer, um sich
zur Ruhe zu begeben.
Er schloß die Thür hinter sich ab und leuchtete
dann mit der Lampe durch das ganze Gemach, wobei
er auch nicht verfehlte, hinter die Fenstervorhänge,
unter Sopha und Bett und sogar in die Schränke zu
schauen. Mr. Dalton mußte zweifellos, trotzdem er
Mitglied der englischen Polizei war, eine sehr ängst-
liche Natur sein.
Nachdem er sich mit großer Sorgfalt überzeugt hatte,
daß er sich allein im Zimmer befand, ließ er die Rou-
leaux vor den Fenstern nieder und verstopfte das Schlüssel-
loch mit einem Stückchen Zeitungspapier. Dann stellte
er sich lächelnden. Gesichts vor den großen Spiegel,
nickte sich selbst freundlich zu und riß sich mit einem
Ruck die Haare vom Kopfe. Die blonde Fülle auf
dem Haupte des ebrenwerthen Mr. Dalton war nämlich
nichts Anderes, als eine allerdings vorzüglich gearbei-

tet 11.
tete Perrllcke, unter der kurzgeschnittencs hellbraunes
Haar zum Vorschein kam. In, gleichen Moment, da
der seltsame Detektiv die Metamorphose vorgeuommeu,
veränderte sich auch blitzartig der Ausdruck seines Ge-
sichtes. Der da vor dem Spiegel stand, das war nicht
mehr der Phlegmatische Engländer mit dem gleich-
giltigen Gesicht, sondern ein Mensch mit listig ver-
schmitzten Zügen, mit einem Antlitz voll brutaler Frech-
heit, raffinirtcr Verschlagenheit nnd tückischer Hinterlist,
das war nicht mehr Mr. Dalton, Mitglied' der eng-
lischen Kriminalpolizei, sondern Andreas Wassili Gior-
giewitsch, der Anarchist, der Abgesandte der Sektion
Genf!
Eine Minute hindurch blieb Dalton — wir be-
halten den Namen, unter welchem der anarchistische
Spion sich bei Jllburg eingeführt, bei — vor denn
Spiegel stehen, als freue er sich, nach langer Ver-
stellung wieder einmal sein wahrhaftiges Gesicht schauen
zu können. Dann begann eine weitere Verwandlung
seines Aeußcren. Er zog Rock und^ Weste aus und
schnallte das unter der letzteren befindliche Watten-
polster ab, das seiner Gestalt bisher ein gewisses be-
häbiges Embonpoint verliehen hatte. Ebenso löste er-
bte Leiuenbiudcn unter seiner Kravattc und prüsentirte
sich schließlich als ein Mann von ziemlich schlanker
Statur, aber mit sehnigen und muskulösen Gliedern.
Eine lustige Melodie leise vor sich hin pfeifend, trat
er an seinen Koffer, öffnete denselben und entnahm ihm
zunächst einen warmgefütterten Schlafrock, in den er-
sieh behaglich einhüllte. Hierauf legte er eine gleich-
falls dem Koffer, und zwar einem geheimen Fache dcs-
felben entnommene Briefmappe aus schwarzem Leder-
ans den Tisch, stellte ein kleines Reisctintcnfaß daneben
und nahm Platz. Er zündete sich eine Eigarre an,
nahm Papier- und Feder hervor, überlegte einige Mi-
nuten, während er die Rauchwolken seiner, dem Dufte
nach nicht aus einer italienischen Rcgiefabrik stammen-
den Cigarre in Ringeln in die Luft stieß, und begann
sodann einen Brief zu entwerfen.
Dieses Schreiben lautete -
„Mcin lieber Franpois!
Bis jetzt ist Alles glücklich abgclaufen, Sie können
nicht mehr verlangen! Basil scheint allerdings gänz-
lich aus Neapel verschwunden zu sein, wenigstens habe
ich ihn bis jetzt nicht auffindcn können; dafür habe ich
bei Herrn v. Jllburg einen um so größeren Sieg da-
vongetragcn. Jllburg ist in der That der Bruder
unseres schmerzlich vermißten Erich, nnd die in seinem
Hause lebende Miß Lupo in Wahrheit die Schwestcr
des Erben Liestmann's. Bei Beiden führte ich mich
der Verabredung gemäß als Kriminalbeamter der Lon-
doner Polizeibehörde auf Grund der von Pietro tadel-
los hergcstellten Legitimationen ein und erzählte ihnen
das vorbereitete Märchen. Das Resultat übertraf noch
meine Erwartungen. Jllburg hat mich für feinen
Privatdienst Zwecks Aufsuchung Ericlfls engagirt und
mir in seinen: Hause eine.Wohnung eingeräumt. Das
erleichtert mir die weiteren Nachforschungen natürlich
in hohem Grade. Trotzdem bin ich noch ungewiß
darüber, auf welche Weise ich zum Ziele kommen werde.
Vor Clelia kann ich mich trotz meiner entstellenden
Maske nicht gut persönlich zeigen; ich muß fürchten,
ihr Mißtrauen zu erregen, sie hat mir in Genf als
Landsmann ihres verstorbenen Gatten eine größere
Aufmerksamkeit geschenkt. Anders ist es mit Basil.
Er hat mich nie sonderlich beachtet und dürfte mich
schwerlich wicdererkenncn. Mit Saccone haben Sie
übrigens Recht gehabt, er gehört ebenfalls zu den Ver-
räthcrn, mit denen wir früher oder später abrechnen
müssen. Da ich ihm, wie er mir, völlig unbekannt, so
kann es nicht schwer sein, sich ihm zu nähern, nur er-
fordern die Vorbereitungen Zeit. In meinem nächsten
Berichte Ausführlicheres. Warten Sie, bitte, denselben
ab, ehe Sie nach Zürich, London und Petersburg Mel-
dung erstatten.
Andreas Wassili."
Nachdem Dalton diesen Brief beendet, übertrug er-
den französisch abgefaßteu Inhalt desselben auf einem
zweiten Bogen in eine höchst komplizirte, nur aus
Zahlenreihen bestehende Geheimschrift, couvertirtc hierauf
das Schreiben und adressirtc es an Herrn Francois
Beaupard, Patentanwalt in Genf, Rue de la Boursc 1l.
Sodann verbrannte Mr. Dalton das Original dieses
Briefes an einem angezündetcn Wachsstreichhölzchen
und streute die Asche, nachdem er sic mit den Finger-
spitzen zerdrückt, in den Kamin.
Neunzehntes Kapitel.
Am See von Ausnro.
Zwei Tage nach den geschilderten Vorgängen ging
den Zeitungen Europa's von Seiten der Koutiueutal-
Tclegraphen-Burcaux eine Reihe beunruhigender Nach-
richten zu, die allesainmt uugeführ wie folgt lauteten -
„In Neapel sind in den letzten Tagen verschiedene
Cholerafülle mit tödtlichem Ausgange zur Anzeige der
Behörden gelangt. Die Seuche ist in den engen und
winkeligen Stadttheilen von Santa Lucia und an der
 
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