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76

Das Buch für Alle.

Heft 3.

„Jetzt hab' ich dich ihm verraten!" lachte ihr
Ottilie zu.
Sie schmiegte sich in seine Arme. Sie waren ver-
lobt.

Acht Tage spater kehrte man nach Berlin zurück.
Es u>nr erst Bells Absicht, für kurze Zeit nach ihrer
Heimat zu reisen
und dort ihre
Angelegenheiten
persönlichin Ord-
nung zu bringen.
Aber Herwarth
wollte sich nicht
von ihr trennen,
und außerdem
hatte Bell in
New Jork einen
zuverlässigenAd-
vokaten, einen
alten Freund
ihres Vaters,
Mister Hitchock,
der alles Nötige
veranlaßte. Die
Hochzeit sollte im
Winter sein, aber
ein unvorherge-
sehenes Hinder-
nis machte einen
Aufschub nötig.
Zu seiner Ver-
heiratung mit
einer Auslände-
rin brauchte Her-
warth in seiner
amtlichen Stel-
lung die aus-
drückliche Ge-
nehmigung des
Kaisers. Es war
in offiziellen
Kreisen bekannt,
daß der Kaiser
eine solche Ge-
nehmigung nur
ziemlich ungern
erteilte; wenn
dar Brautpaar
auch getrost hof-
- .V konnte, durch
Herwarths ihm
wohlgesinnte
Vorgesetzte sie
schließlich zu er-
langen. Deshalb
verzögerte sich die
Angelegenheit.
Bell wohnte
einstweilen im
An gern sehen
Hause. Dort
sahen sich die
Verlobten täg-
lich. Zu den
Weihnachtsfeier-
tagen traf auch
Karla ein. Sie
war ein liebli-
ches Geschöpf,
noch halb Kind
und Herwarth
fehr ähnlich.
Was Bell schon
vorher für ihre
kleine Schwäge-
rin eingenom-
men hatte, war
die große Liebe,
die aus ihren
Briefen zu ihrem
Bruder sprach.
Nun, als sie sich
persönlich kennen
lernten, gewan-
nen sie sich lieb
wie Schwestern, und als der Abschied kam, trennte
sich Karla nur unter Thränen von Bell. Erst zur Hoch-
zeit sollten sie sich Wiedersehen.
Alles wünschte Herwarth zu seiner reichen, liebens-
würdigen und schönen Braut Glück. Bei den Besuchen,
die er mit ihr machte, auf den Bällen und Gesell-
schaften, wo man sie sah, war alles von ihr bezaubert.
Es war ganz merkwürdig, wie sie sich auch äußerlich
verändert hatte. Niemand hätte in ihr die bescheidene
Erscheinung von noch vor wenigen Monaten wieder-
erkannt. Zum Teil trugen zu diesem Eindruck wohl

auch die gewählten Toiletten bei, die man jetzt an
ihr sah. Vor allem aber war es die Sonne des Glücks,
in dem ihr ganzes Wesen aufblühte und sich entfaltete.
Herwarth konnte auf seine Braut stolz sein.
Er ivar es auch, er liebte sie. Auf welchem dunklen
Grunde diese Liebe auch gewachsen war, nun lebte sie
im goldenen Licht, nun füllte sie sein ganzes Wesen aus,
nun ivar sie das höchste Glück seines Lebens geworden.

Sein Glück? Nein. Ein heimlicher Murin nagte
daran. Es war die Lüge. Sie zehrte und zehrte.
Immer und immer wieder hatte er sich davon befreien
wollen, sich die Last von der Seele wälzen, in den
Augenblicken stillen Zusammenseins ihr alles gestehen,
ihre Verzeihung erflehen, auch wenn sie sich dann
für immer von ihm abwenden würde bis er dann
wieder in seinem Schweigen, seiner Lüge verharrte, ja
sich selber belog, denn er spiegelte sich vor, daß es
nicht nur sein eigenes Glück war, was er durch ein
G lländnis der Wahrheit preisgab, sondern auch das

ihre. Das war sein Argument, damit wiegte er-
sieh ein.
„Ich finde, du hast dich in deine Nolle als glück-
licher Bräutigam ganz außerordentlich gut hineinge-
spielt," hatte Ottilie einmal, als sie allein waren, zu
ihm gesagt. Sie glaubte noch immer, seine Liebe sei
Heuchelei, und es war gut, daß sie das glaubte, gut
für sie selbst, und er wollte ihr den Glauben nicht
nehmen. Von
der Kluft, die
ihn innerlich jetzt
von ihr trennte,
ahnte sie nichts.
Seine Mitschul-
dige war sie, die
Anstifterin fei-
nes Verbrechens,
und schon des-
halb konnte er
keine Zuneigung
mehr für sie füh-
len.
Aber damit
begnügte sie sich
nicht. Wie sie
auf Bell herab-
sah, halb mit
Mitleid, halb
mit hochmütigem
Spott! Jetzt erst
enthüllte sie sich
vor ihm. Unter
ihrer alle Welt
bestechenden
Oberfläche kam
ein harter, grau-
samer, rücksichts-
loser Egoismus
zu Tage. Ihr
seine Liebe zu
Bell jetzt ge-
stehen — es wäre
ihm wie eine
Tempelschän-
dung vorgekom-
men.
Ob der Ge-
heimrat etwas
von ihrem Ge-
heimnis wußte?
Nein, denn Ot-
tilie hatte ihm
nichts davon ge-
sagt. Was er
aber nicht vor
ihm hatte ver-
heimlichen kön-
nen, das war
der Verlust sei-
nes Vermögens,
denn er hatte ihn
um eine momen-
tane Hilfe an-
gehen müssen.
Und er empfand
es ganz genau
— An gern ließ
sich nicht von
ihnen beiden be-
trügen. Er nicht.
Auch wenn er sie
nie nach der
Wahrheit fragte,
auch wenn er
nur seine stum-
men Blicke auf
ihnen ruhen ließ.
So war es ja
sein Prinzip.
Die Dinge, in
die er nicht drein-
zureden hatte,
gehen zu lassen,
wie sie gingen,
und sich das sei-
nige dazu zu
denken. Angern
ahnte alles, auch wenn er vor ihnen ebenso schwieg
wie vor Bell,, die nun seine beste Freundin war.
Es war ein Tag im Januar. Vom grauen Himmel
rieselte seiner Schnee. Herwarth begab sich zu seiner
Braut, und mit bleicher Miene eilte ihm Bell schon
im Vestibül entgegen. Es war ein Unglück geschehen.
Der Geheimrat hatte einen Blutsturz bekommen, und
der Arzt war da.
„Sei ruhig!" bat er sie zärtlich und trat ins .
Krankenzimmer. Blei'ch lag der Kranke in seinen K" m.


Wosthakt vor dem KandeggfaK im Werner Werland. Nach einer Originalskizze von I. Scotti. (S. 78)
 
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