Heft 3.
77
Das Buch f ü r A I. l e.
Der Arzt meinte, daß der Kranke sofort nach dem
Süden müsse, nach Unteritalien. Ottilie mar im höchsten
Maße erregt. Eine solche Reise jetzt mitten un Winter,
und sie, eine hilflose Fran, mit dem Kranken ganz
allein! Bell sprach davon, daß sie mitgehen wolle,
daß vielleicht auch Herwarth sie begleiten könnte. Aber
erstens hätte sich Herwarth dazu Urlaub nehmen müssen,
und gerade jetzt
war das aus
Dienstgründen
nicht möglich,
und zweitens
war jeden Tag,
wie jetzt die
Sache stand, der
Konsens zu er-
warten, worauf
baldigst ihreVer-
mählung statt-
finden sollte.
Auch Bell durfte
aus diesem
Grunde also
nicht fort.
„Ich möchte
eine solche Be-
gleitung auch
nicht," sagte der
Arzt, „was der
Herr Geheim -
rat vor allem
braucht, ist ab-
solute Ruhe.
Ich werde Ih-
nen einen zuver-
lässigen Men-
schen schicken,
gnädige Frau,
der wird mit
Ihnen gehen."
Wenn Otti-
lie abreiste —
was aber ge-
schah dann mit
Bell? Herwarth
wünschte, daß
sie nicht allein
blieb. Er tele-
graphierte also
an Karla. Zwei
Tage später,
nachdem Ottilie
einen aufgereg-
ten Abschied ge-
nommen hatte,
— der Geheim-
rat selber, der
wieder Halbwegs
zu Kräften ge-
kommen war,
bewahrte seinen
heiteren Gleich-
mut und küßte
bei der Tren-
nung mit einer
besonderen in-
neren Bewe-
gung Bell wie
eine Verwandte
auf die Stirn
kam Karla
an, warf sich
Bell an die
Brust, und nun
waren die bei-
den Mädchen
mit der Diener-
schaft und mit
einer Gesell-
schaftsdame, die
Bell jetzt für
sich engagierte,
allein.
Was Her-
warth betraf,
so fühlte er sich
durch Ottiliens
Abreise erleichtert. Kein Zeuge seines Geheimnisses
stellte sich mehr zwischen ihn und sein zukünftiges
Weib. Er atmete freier, und Bell merkte es an der
wachsenden Leidenschaftlichkeit, der er sich gegen sie
überließ. Sie nahm sie für seine wachsende Liebe und
war darüber glücklich. Ungeschehen konnte er das Ge-
schehene nicht machen, aber sühnen wollte er's und an
ihr Glück sein ganzes Leben setzen.
Einmal traf er Karla allein. Bell hatte sich, um
irgend etwas zu besorgen, nach der Stadt begeben.
„Soll ich dir verraten, wo sie hin ist?" sagte Karla
schalkhaft. „Sie kaust sich einen Hut, so einen, wie
er dir neulich so gefallen hat." Und als wäre sein
Glück das ihre, so schlang sie in schwesterlicher Zärt-
lichkeit die Arme um seinen Hals. „Sie liebt dich so.
Sie ist so gut."
Der Schatten trat wieder auf seine Stirn. „Ich
bin ihrer nicht wert," murmelte er.
„Was meinst du?" fragte Karla erstaunt, denn sie
verstand ihn nicht.
Er gab ihr keine Antwort, aber Karla mußte immer
daran denken, was er damit gemeint hatte, und endlich
glaubte sie - - denn natürlich wurden in der Pension
auch verstohlen Romans gelesen, und wie hätte ein
Bruder wie Herwarth nicht in allem ein ebensolcher
Held sein müssen wie die in den Romanen — den
Grund gefunden zu haben.
„Denke dir," sagte sie zu Bell — sie kamen eben
beide von der Eisbahn — „was Herwarth zu mir ge-
sagt hat: Er sei deiner nicht wert!" Karla freute sich
darüber, wie klug sie war. „Soll ich dir sagen, was
er damit meint? Daß er schon andere Mädchen lieb
gehabt hat vor dir. Deshalb denkt er, ist er deiner
nicht wert. Du mußt aber nicht eifersüchtig sein, Bell.
Daraus siehst du eben erst, wie lieb er dich hat."
Mechanisch hörte Bell ihrem kindischen Geplauder
zu, aber am
nächsten Tage
merkte sie, daß
sie diese Worte,
„er sei ihrer
nicht wert",
nicht vergessen
konnte, und aus
einer verscholle-
nen Tiefe ihres
Herzens stieg
etwas auf, et-
was mit einem
Medusenhaupt.
Wenn sie es an-
sah , durchlief
ihre Adern ein
Erstarren und
Versteinern,
und sie dachte
an die Stunde
damals, wo die-
ses Etwas zum
erstenmal vor
ihr aufgestiegen
war. Es war
dieselbe Stunde,
in der sie Otti-
lie angeklagt
hatte, sie betro-
gen, sie verra-
ten zu haben,
in der sie ge-
glaubt, daß auch
er sie betrog
und verriet. . . .
Niemals, nie-
mals wieder
wollte sie daran
auch nur den-
ken. Nicht, weil
sie sich selbst,
sondern weil sie
ihn damit be-
sudelte. Und
nun war es
wieder in ihr
wach geworden
. . . War seine
Liebe nicht klar
wie die Sonne?
Fühlte sie es,
wie er sie liebte,
nicht in jedem
Kuß von ihm?
„Vergieb
mir!" flüsterte
sie im Geiste zu
dem Geliebten
empor, wie eine
Sünderin.
Kein Ge-
heimnis hatte
sie mehr vor
ihm. Auch von
Fred hatte sie
ihm erzählt und
wie verliebt er
in sie gewesen
war.
„Wie hätte
er dich nicht lie-
ben sollen," war
seine Antwort
gewesen, indem
er sie in seine
Arme zog.
Fred hatte
ihr auf die an
ihn gelangte
Verlobungsanzeige ein Glückwunschschreiben geschickt.
„Was liegt an mir?" schrieb er, „wenn du nur glück-
lich wirst. Nur das verlange nicht von mir, daß ich
zu deiner Hochzeit komme. Deinen Gatten will ich
nicht sehen. Ich würde ihn nur hassen lernen, und
um so mehr, je mehr du ihn liebst. Ich hasse ihn
schon jetzt ..." Die Leidenschaft in ihrer ganzen Selbst-
sucht sprach aus seinem Brief. Wie ein Kind, denn er
war zwei Jahre jünger als sie, wie einen guten Jungen
hatte sie ihn behandelt, denn sie wußte damals nicht,
was Liebe, was verschmähte Liebe war.
Hlektrische Beleuchtung der Alpvachsülle vei Meiringen. Nach einer Originalskizze von I. Scotti. (S. 78)
77
Das Buch f ü r A I. l e.
Der Arzt meinte, daß der Kranke sofort nach dem
Süden müsse, nach Unteritalien. Ottilie mar im höchsten
Maße erregt. Eine solche Reise jetzt mitten un Winter,
und sie, eine hilflose Fran, mit dem Kranken ganz
allein! Bell sprach davon, daß sie mitgehen wolle,
daß vielleicht auch Herwarth sie begleiten könnte. Aber
erstens hätte sich Herwarth dazu Urlaub nehmen müssen,
und gerade jetzt
war das aus
Dienstgründen
nicht möglich,
und zweitens
war jeden Tag,
wie jetzt die
Sache stand, der
Konsens zu er-
warten, worauf
baldigst ihreVer-
mählung statt-
finden sollte.
Auch Bell durfte
aus diesem
Grunde also
nicht fort.
„Ich möchte
eine solche Be-
gleitung auch
nicht," sagte der
Arzt, „was der
Herr Geheim -
rat vor allem
braucht, ist ab-
solute Ruhe.
Ich werde Ih-
nen einen zuver-
lässigen Men-
schen schicken,
gnädige Frau,
der wird mit
Ihnen gehen."
Wenn Otti-
lie abreiste —
was aber ge-
schah dann mit
Bell? Herwarth
wünschte, daß
sie nicht allein
blieb. Er tele-
graphierte also
an Karla. Zwei
Tage später,
nachdem Ottilie
einen aufgereg-
ten Abschied ge-
nommen hatte,
— der Geheim-
rat selber, der
wieder Halbwegs
zu Kräften ge-
kommen war,
bewahrte seinen
heiteren Gleich-
mut und küßte
bei der Tren-
nung mit einer
besonderen in-
neren Bewe-
gung Bell wie
eine Verwandte
auf die Stirn
kam Karla
an, warf sich
Bell an die
Brust, und nun
waren die bei-
den Mädchen
mit der Diener-
schaft und mit
einer Gesell-
schaftsdame, die
Bell jetzt für
sich engagierte,
allein.
Was Her-
warth betraf,
so fühlte er sich
durch Ottiliens
Abreise erleichtert. Kein Zeuge seines Geheimnisses
stellte sich mehr zwischen ihn und sein zukünftiges
Weib. Er atmete freier, und Bell merkte es an der
wachsenden Leidenschaftlichkeit, der er sich gegen sie
überließ. Sie nahm sie für seine wachsende Liebe und
war darüber glücklich. Ungeschehen konnte er das Ge-
schehene nicht machen, aber sühnen wollte er's und an
ihr Glück sein ganzes Leben setzen.
Einmal traf er Karla allein. Bell hatte sich, um
irgend etwas zu besorgen, nach der Stadt begeben.
„Soll ich dir verraten, wo sie hin ist?" sagte Karla
schalkhaft. „Sie kaust sich einen Hut, so einen, wie
er dir neulich so gefallen hat." Und als wäre sein
Glück das ihre, so schlang sie in schwesterlicher Zärt-
lichkeit die Arme um seinen Hals. „Sie liebt dich so.
Sie ist so gut."
Der Schatten trat wieder auf seine Stirn. „Ich
bin ihrer nicht wert," murmelte er.
„Was meinst du?" fragte Karla erstaunt, denn sie
verstand ihn nicht.
Er gab ihr keine Antwort, aber Karla mußte immer
daran denken, was er damit gemeint hatte, und endlich
glaubte sie - - denn natürlich wurden in der Pension
auch verstohlen Romans gelesen, und wie hätte ein
Bruder wie Herwarth nicht in allem ein ebensolcher
Held sein müssen wie die in den Romanen — den
Grund gefunden zu haben.
„Denke dir," sagte sie zu Bell — sie kamen eben
beide von der Eisbahn — „was Herwarth zu mir ge-
sagt hat: Er sei deiner nicht wert!" Karla freute sich
darüber, wie klug sie war. „Soll ich dir sagen, was
er damit meint? Daß er schon andere Mädchen lieb
gehabt hat vor dir. Deshalb denkt er, ist er deiner
nicht wert. Du mußt aber nicht eifersüchtig sein, Bell.
Daraus siehst du eben erst, wie lieb er dich hat."
Mechanisch hörte Bell ihrem kindischen Geplauder
zu, aber am
nächsten Tage
merkte sie, daß
sie diese Worte,
„er sei ihrer
nicht wert",
nicht vergessen
konnte, und aus
einer verscholle-
nen Tiefe ihres
Herzens stieg
etwas auf, et-
was mit einem
Medusenhaupt.
Wenn sie es an-
sah , durchlief
ihre Adern ein
Erstarren und
Versteinern,
und sie dachte
an die Stunde
damals, wo die-
ses Etwas zum
erstenmal vor
ihr aufgestiegen
war. Es war
dieselbe Stunde,
in der sie Otti-
lie angeklagt
hatte, sie betro-
gen, sie verra-
ten zu haben,
in der sie ge-
glaubt, daß auch
er sie betrog
und verriet. . . .
Niemals, nie-
mals wieder
wollte sie daran
auch nur den-
ken. Nicht, weil
sie sich selbst,
sondern weil sie
ihn damit be-
sudelte. Und
nun war es
wieder in ihr
wach geworden
. . . War seine
Liebe nicht klar
wie die Sonne?
Fühlte sie es,
wie er sie liebte,
nicht in jedem
Kuß von ihm?
„Vergieb
mir!" flüsterte
sie im Geiste zu
dem Geliebten
empor, wie eine
Sünderin.
Kein Ge-
heimnis hatte
sie mehr vor
ihm. Auch von
Fred hatte sie
ihm erzählt und
wie verliebt er
in sie gewesen
war.
„Wie hätte
er dich nicht lie-
ben sollen," war
seine Antwort
gewesen, indem
er sie in seine
Arme zog.
Fred hatte
ihr auf die an
ihn gelangte
Verlobungsanzeige ein Glückwunschschreiben geschickt.
„Was liegt an mir?" schrieb er, „wenn du nur glück-
lich wirst. Nur das verlange nicht von mir, daß ich
zu deiner Hochzeit komme. Deinen Gatten will ich
nicht sehen. Ich würde ihn nur hassen lernen, und
um so mehr, je mehr du ihn liebst. Ich hasse ihn
schon jetzt ..." Die Leidenschaft in ihrer ganzen Selbst-
sucht sprach aus seinem Brief. Wie ein Kind, denn er
war zwei Jahre jünger als sie, wie einen guten Jungen
hatte sie ihn behandelt, denn sie wußte damals nicht,
was Liebe, was verschmähte Liebe war.
Hlektrische Beleuchtung der Alpvachsülle vei Meiringen. Nach einer Originalskizze von I. Scotti. (S. 78)