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M 4.__
aus dem Theater kam, und ihr auf ihr Geschrei in das
Zimmer gefolgt, wo er den Commendatore tot am
Boden liegend vorgefunden hatte.
„Warum haben Sie ihn nicht liegen lassen, wie
er lag?" fragte der Kommissar, der sich die Angaben
Pippos sehr sorgfältig aufschrieb.
„Ich mußte doch der Signorina, die ihn aufheben
wollte, helfen," erklärte Pippo.
„Also Signorina Righetti hat ihren Vater zuerst
aufgefunden?'" fragte der Beamte wieder.
„Ja. Ich hörte sogar noch, wie sie mit ihm sprach."
„Wie? Die Signorina hat noch mit ihm ge-
sprochen?"
„Ich hörte wenigstens sprechen, als ich draußen
auf dem Korridor vorüberging," erwiderte Pippo.
„Den Commendatore?"
„Nein, das Fräulein."
Es entstand eine Pause. Der Kommissar hob die
Waffe, die noch immer am Boden lag, auf und unter-
suchte sie. Dann näherte er sich der Leiche, wobei, er
Giovanna flüchtig mit den Blicken streifte. Sie schien
ganz empfindungslos für das, was um sie herum vor-
ging, zu sein, und nahm von dem Beamten gar keine
Notiz. Dieser fand bei seiner Untersuchung rasch her-
aus, daß der Tod vielleicht schon vor Stunden durch
einen Schuß ins linke Ohr herbeigeführt worden war.
Sowohl die Waffe, als der Umstand, daß das Ohr
vom Pulver geschwärzt war, sprachen dafür, daß der
tödliche Schuß aus allernächster Nähe, vielleicht so ab-
gegeben worden war, daß der Thäter die Waffe un-
mittelbar an das Ohr gehalten hatte. Die Wahrschein-
lichkeit des Selbstmords war damit gegeben, wenn
auch nicht erwiesen. Es konnte ja auch sein, daß
Righetti von hinten her überrascht, vielleicht schlafend
überfallen worden war. Es kam darauf an, genau
zu erfahren, wie die Leiche gefunden worden war.
„Signorina Righetti," wandte sich der Kommissar
an diese, „wollen Sie die Güte haben, uns genau zu
erzählen, was hier geschehen ist, seit Sie das Zimmer
betraten?"
Giovanna stand schluchzend auf und sah den Mann
an. Sie schien nicht recht verstanden oder begriffen zu
haben.
„Es handelt sich besonders darum, zu wissen, wie
Sie Ihren Vater gefunden haben," wiederholte der
Kommissar.
„Dort," antwortete Giovanna kurz und deutete auf
den Sessel.
„Auf dem Sessel? Sitzend?"
Giovanna nickte.
„Und die Waffe? Hatte er sie in der Hand?"
„Nein. Sie lag da," antwortete Giovanna wie-
der und bezeichnete ziemlich genau den Ort, wo der
Kommissar die Waffe soeben aufgehoben hatte — keine
zwei Schritt von dem Sessel entfernt.
„Als Sie eintraten, sprachen Sie noch mit Ihrem
Herrn Vater, Signorina. Verstand er Sie?"
„Nein! Ich kam von dort und konnte also gar
nicht sehen, daß er schon — — — daß er schon tot
war!"
Damit schienen aber nun die Kräfte der jungen
Dame erschöpft zu sein. Händeringend und krampf-
haft zuckend siel sie von neuem vor ihrem Vater nieder.
Der Kommissar, der wohl einsehen mochte, daß
unter solchen Umstünden nicht viel zu machen sei, gab
dein Kammermädchen und dem Diener einen Wink
und sprach leise mit ihnen. Diese beiden hoben dann
Giovanna langsam und vorsichtig auf und führten die
nicht Widerstrebende nach ihrem Zimmer, wo sie sie
auf das Belt legten. Pippo ging daraufhin wieder
fort, um weiter zur Verfügung des Kommissars bei
seinen Erhebungen zu sein. Marietta blieb bei ihrer
Herrin.
Sie lag ruhig und schien zu schlafen, in Wirklich-
keit war das nur eine Ermattung des Körpers, wäh-
rend ihr Geist wie fiebernd fortarbeitete. Oft mit
angehaltenem Atem lauschend, lag sie da, als ob sie
erhorchen wolle, was wohl dort drüben nun vor sich
ging; da ihr Schlafzimmer aber in dein anderen Flügel
des Gebäudes lag, so war es ganz unmöglich, etwas
zu hören. Tiefe Nachtstille herrschte um sie her, nur
in langen Pausen von einem vorbeirasselnden Wagen
unterbrochen.
Dann fing sie an zu weinen. Reichlich und un-
aufhaltsam flössen ihre Thränen über die schmalen,
bleichen Wangen, begleitet von schluchzenden Seufzern,
die sie in den Kissen erstickte. Es waren bange Seufzer
der einsamen Trauer, der grausam Verlassenen, die
sich mit einemmal hilflos und erbarmungswürdig den
Stürmen des Lebens preisgegeben sah.
Endlich schlief sie ein, aber es war mehr eine Be-
täubung, ein wirrer Halbschlaf, in dem sie schreckliche
Träume quälten, als eine Erquickung. — — —
Rauhes Geschrei, gellende schrille Rufe hallten von
der Straße heraus an ihr Ohr, und als sie die Augen
öffnete, fiel das graue, unsichere Licht des dämmernden
Morgens in ihr Zimmer. Die erste Nacht des vater-
losen, verlassenen Kindes war vorüber, der erste Tag

Das Bu ch s u r A l l e.

brach an. Was würde er bringen? Giovanna graute
vor ihm. Sie stützte den Kopf in die Hand und sah
sich um. Marietta lag in einem Sessel und war ein-
geschlafen-, von unten herauf klang noch immer das
wilde Geschrei der StrilloniT)
Bisher war Giovanna dieses wüste Geschrei nie-
mals ausgefallen. Als echte geborene Römerin war
sie daran so gewöhnt wie an das Tageslicht, und es
würde auf sie vermutlich mehr Wirkung gemacht haben,
wenn es einmal ausblieb. Nur heute, nach einer
solchen fürchterlichen Nacht, wurde sie dabei nachdenk-
lich. Dieses wüste Geschrei klang ihr wie Hilferufe,
die unter den Fenstern der Neichen aus dem sozialen
Sumpf der Großstadt heraustönen. Das Mitleid mit
den armen Leuten faßte sie, die von Kind auf auf die
Straße gesetzt, einen Kampf ums Dasein führen
müssen, der sie weit vor der Zeit aufreibt.
Das eigene Unglück begann auch bei der verwöhnten,
verzärtelten und verzogenen Giovanna sein erzieherisches
Werk, machte ihr Mitleid reger, ihr Herz empfindlicher
und ihren Gesichtskreis weiter.

Ze-Hntes Kerpitek.
Da der Commendatore Paolo Righetti nicht nur
ein hochgestellter Beamter, sondern auch eine stadtbe-
kannte Persönlichkeit gewesen war, so machte sein Tod,
oder vielmehr die näheren Umstände, unter denen er
erfolgt war, das größte Aufsehen.
Der Procuratore*) **) Cavaliere Decio Bentivoglio,
der von dein Polizeikommissar noch in derselben Nacht
verständigt wurde, hatte nichts Eiligeres zu thun, als
die aufregenden Einzelheiten — zunächst natürlich
bloß vertraulich — Seiner Excellenz dem Justizminister
selbst mitzuteilen, um zu hören, was etwa höheren
Ortes bezüglich der anzustellenden Untersuchungen ge-
wünscht werde.
„Ums Himmels willen, Cavaliere," jammerte der
Allgewaltige, „seien Sie vorsichtig. Machen Sie so
wenig Aufsehen wie möglich. Es ist ja schrecklich.
Immerwährend diese faulen Untersuchungen. Und wir
können jetzt solche Sachen gar nicht brauchen. Jetzt,
so kurz vor Eröffnung der Parlamentssitzungen — —
seien Sie um Gottes willen vorsichtig. Wer weiß, was
da alles wieder zum Vorschein kommt!"
„Excellenz, ich denke, man muß Rücksicht auf die
so hart betroffene Familie nehmen."
„Selbstverständlich, mein lieber Cavaliere, nehmen
Sie Rücksicht, sehr viel Rücksicht. Es wäre ja schreck-
lich, wenn es heißen würde: Unterstaatssekretär Ri-
ghetti hat sich selbst — oder->, kurz, seien Sie
vorsichtig. Es wird sich doch unverfänglich erklären
lassen, vielleicht durch ein Versehen, eine Unvorsichtig-
keit mit der Waffe, oder ein Herzschlag und dergleichen.
Bitte, Herr Cavaliere, behandeln Sie die Sache so
diskret wie möglich."
„Eure Excellenz dürfen versichert sein —"
„Und, nicht wahr, Sie halten mich auf dem Laufen-
den — ich meine nicht amtlich, sondern persönlich.
Amtlich will ich natürlich mit der Sache so wenig wie
möglich zu thun haben. Verstanden?"
Natürlich verstand Cavaliere Bentivoglio sehr gut.
Die Hälfte hätte genügt, um ihn zu unterrichten,
welches Ergebnis der Untersuchung gewünscht werde.
Er begann seins Thätigkeit in dieser Sache mit dem
Verhör verschiedener Personen, die er sich nach den
Aufzeichnungen des Polizeikommissars auf sein Bureau
bestellt hatte.
Zuerst kam der Thürhüter des Palazzo Righetti an
die Reihe. Seine Aussagen waren belanglos oder be-
trafen doch nur Gegenstände, die allgemein bekannt
und gar nicht strittig waren. Der Staatsanwalt be-
handelte ihn auch ziemlich summarisch, und der Thür-
steher, ein schon bejahrter Mann, war natürlich auch
nicht böse darüber, mit den Gerichten so rasch und
leicht wieder fertig zu werden. Er hätte vielleicht
mancherlei Andeutungen, und Hinweise machen können,
aber der Staatsanwalt fragte nur nach bestimmten
Sachen, während von Wahrnehmungen des Thürhüters
gar keine Rede war.
Nach ihm trat der Doktor Rinaldo Bocconi ein.
Der Arzt, der durch sein Verhältnis zum Landesirren-
*) Bei dem in Rom herrschenden Arbeitsmangel werfen
sich immer mehr die darunter leidenden ärmeren Leute auf
den Hausierhandel, der infolgedessen in den römischen Straßen
ganz merkwürdige Formen annimmt. Wenn der Tag kaum graut,
durchziehen bereits ganze Scharen von Händlern die Straßen
und bringen Milch, Brot, Zeitungen, Kartoffeln, Gemüse,
Küchenbedürfnisse aller Art, dabei so laut wie möglich
schreiend, um — in: eigentlichsten Sinne des Wortes — die
Konkurrenz niederzuschreien. Daher auch ihr Name: Ltrilloni
(von stritlark— schreien, brüllen). Später kommen dann
die Händler nut Regenschirmen, Pantoffeln, Glaswaren, Blech-
geschirr, Wasser, Zuckersachen, die fahrbaren Garküchen (ge-
wöhnlich mit schrillen Pfeifen), die Schleifer, dis Wachs-
streichholzhändler u. s. w. Alle haben ihr besonderes Geschrei,
mit dein sie sich bemerkbar machen, so daß sich der Straßen-
lärm mitunter wie ein Schlachtgetöse anhört.
**) Staatsanwalt.

Haus selbst ein halber Beamter war, eignete sich für
den Procuratore schon besser zu einer eingehenden
Besprechung des Falles und zu einer „vorsichtigen"
Klarstellung der Vorgänge im Palazzo Righetti.
„Sie waren in den letzten Jahren Hausarzt des
verstorbenen Commendatore Righetti?" begann der
Staatsanwalt nach einer herzlichen Begrüßung.
„Doch nicht so ganz. Righetti konsultierte neben
mir gelegentlich auch noch andere Aerzte," antwortete
Bocconi zurückhaltend.
„Nun ja, das kommt ja wohl vor. Jedenfalls
gingen Sie dort viel aus und ein und kennen Righetti
seinem körperlichen Befinden nach schon jahrelang."
„Das stimmt. Ich behandelte indessen in letzter
Zeit vorwiegend seine Tochter, Signorina Giovanna."
„So, so! Ist die auch krank?"
„Unter uns gesagt, Herr Staatsanwalt, es waren
meist eingebildete Krankheiten, an denen sie litt. Aber
Sie wissen ja wohl, daß wir Aerzte, die auch auf eine
gute Praxis halten müssen, zum Teil mit auf solche
Kranke angewiesen sind. Wenn jemand durchaus krank
sein will, so wird vermutlich der behandelnde Arzt am
allerwenigsten dagegen einzuwenden haben."
„Ich verstehe schon, Herr Doktor. Aber bleiben
wir bei der Sache. Sie haben heute morgen die Leiche
des Commendatore untersucht. Bitte, sagen Sie mir
Ihre Meinung. Wie ist das Unglück zu erklären?"
„Herr Staatsanwalt — —" erwiderte Bocconi
zögernd.
„Bitte, Herr Doktor,, sprechen Sie ohne Scheu.
Ich versichere Ihnen, daß ich von Ihren Aussagen
den vorsichtigsten Gebrauch machen werde. Halten Sie
einen Selbstmord für möglich?"
„Ich möchte das in Rücksicht auf die gesellschaftliche
Stellung des Verstorbenen, sowie in Rücksicht auf seine
Kollegen und seine Familie wohl verneinen, darf es
aber als gewissenhafter Arzt nicht, ebensosehr in Hin-
sicht auf die Beschaffenheit der Wunde selbst, wie in
Hinsicht auf den körperlichen Zustand Righettis."
„Gehen wir Schritt für Schritt, Herr Doktor.
Also die Beschaffenheit der Wunde läßt die Möglich-
keit eines Selbstmordes zu?"
„Allerdings."
„Bedingte vielleicht sogar einen solchen?"
„Das will ich nicht behaupten," antwortete der
Arzt rasch.
„Gut. Gehen wir weiter. Was hat der körper-
liche Zustand Righettis mit einem möglichen Selbst-
mord zu schaffen? Wie sich herausgestellt hat, war
der Commendatore in den glänzendsten Vermögensver-
hältnissen, alle seine Beziehungen sind so glatt und ge-
regelt, daß man ihn beneiden konnte. Was, glauben
Sie, könnte ihn trotzdem bewogen haben, selbst Hand
an sich zu legen?"
„Righetti war seit Jahren Morphinist."
„Ah," machte der Staatsanwalt überrascht. „Sie
wollen sagen, daß er Mißbrauch mit Morphium trieb?"
„Ich will sagen, daß er seine Nerven damit ruiniert
hat. Ich habe ihn gewarnt, so dringend und so oft
ich konnte, ohne Erfolg, und es ist nicht unmöglich,
daß er in einem Augenblick vollständigen Niederge-
schlagenseins, oder, wie die Laien wohl sagen, in
einem Anfall von Schwermut zur Waffe gegriffen hat."
„Das ist sehr gut. In einem Anfall von Schwer-
mut. Sie halten das für möglich? Das kommt vor?"
„Das ist sehr leicht möglich. Solche Kranke haben
Augenblicke, in denen ihnen alle Lebensenergie, aller
Mut, alle Lust zum Leben schwindet, wo eine gewisse
Lebensmüdigkeit, ein Ekel vor allem sich ihrer be-
mächtigt, und in einem solchen Zustand ist eine der-
artige Verzweiflungsthat wohl erklärlich."
„Ja, ja, sehr begreiflich. In einem Anfall von
Schwermut."
Der Ausdruck schien dem Staatsanwalt außerordent-
lich zu gefallen, denn er wiederholte ihn noch einigemal.
Er hatte so etwas Wehmütig-Menschliches, etwas Ver-
zeihliches, Sanftes und Gelindes. Bentivoglio dachte
wahrscheinlich in diesem Augenblick daran, daß er damit
bei Seiner Excellenz einen ausgezeichneten Eindruck
werde erzielen können.
„Und nun weiter, Herr Doktor. Es sind noch
einige nebensächliche Punkte klar zu stellen," fuhr der
Staatsanwalt dann fort. „Wann ist nach Ihrer
Meinung der Tod des Commendatore eingetreten?"
„Jedenfalls vor Mitternacht, denn ich habe die
Leiche drei Uhr morgens untersucht und fand schon
vollständige Erstarrung vor."
„Genauer können Sie es nicht angeben?".
„Nein, Herr Staatsanwalt."
„Das ist schade. Tie übrigen Zeugen sind nämlich
auch so unbestimmt in ihren Aeußerungen über diesen
Punkt. Der Diener weiß davon nichts. Er hat den
ganzen Abend geschlafen. Signorina Giovanna ist
erst nach Mitternacht aus dem Theater gekommen und
weiß natürlich auch nicht, was vorher geschehen ist,
und die Untersuchung muß doch gewisse Punkte fest-
stellen. Aber ich werde nur in dieser Beziehung wohl
noch helfen können. Es sind noch der Marchese de Rossi
 
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