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124

V n ch f ü r All e.

Hest 5.

Die letzten Jahre, die sie mit ihrem Alaune zu-
sammen lebte, mären eine fortgesetzte Qual für die
Aermste. Er machte sie für alles Unglück, das ihn
betraf, verantwortlich und sah in ihr das Elend seiner
Existenz, seinen Ruin. Er märe sie gern losgemesen,
um womöglich durch eine reiche Heirat seinen recht
mißlich gewordenen Verhältnissen aufzuhelfen, und
Esperanza wäre in ihrem trostlosen Unglück und
Jammer auch vielleicht in den Tiber gelaufen oder
hätte auf sonst eine Weise ihrem unseligen Dasein ein
Ende gemacht, wenn sie es übers Herz gebracht hätte,
ihren Sohn zu verlassen. Die ganze angeborene Zärt-
lichkeit ihres heißen, stürmischen Herzens, die ihr Mann
so brutal und roh zurückstieß, übertrug sie auf ihren
Sohn, ihren Rodolfo. Wenn diese Liebe, diese Zärt-
lichkeit für Nodolfo alle Grenzen der Vernunft über-
schritt, so war das ein Naturfehler Esperanzas, für
den sie nicht verantwortlich gemacht werden konnte.
Sie wußte es nicht besser. Sie konnte ihren Sohn
nicht lehren, was sie selbst nicht wußte, und so wurde
aus Nodolfo trotz der großen einzigen Mutterliebe,
oder vielmehr eben deshalb, das, was er nun war,
ein Taugenichts, der in seiner Unwissenheit zu allein
fähig war.
Von Stufe zu Stufe ging es abwärts auf der
Schicksalsleiter der Marchesa. Ihr Mann starb, aber
die Erleichterung, die ihr das hätte bringen können,
wurde ausgewogen dadurch, daß Nodolfo heranwuchs.
Die Sorge um ihn hatte ihr Haar gebleicht, der Kum-
mer, ihn trotz allem, was sie an ihm hatte thun
können, auf Abwege geraten zu sehen, beugte sie in
ihrem Alter. Der bitterste Mangel trat auf als
Peiniger und Versucher, und Esperanza bangte und
graute es vor der Tiefe des Elends, zu der die mensch-
liche Existenz herabsinken kann. War sie noch immer
nicht unten angelangt? Dort, wo es nicht mehr tiefer
ging?
Immer leerer und öder wurde es in der elenden
Behausung der Marchesa in der Via Giulia. Ein
Stück nach dein anderen, soweit es noch einigen Wert
hatte, wanderte zum Pfandleiher. Bald vermißte sie
das, bald jenes. Sie wußte, wie das zuging, und
sagte nichts. Nodolfo brauchte Geld und schaffte die
Sachen heimlich fort. Noch kürzlich hatte sie in ihrer
Kommode ein kleines goldenes Medaillon, das sie als
junges Mädchen von ihrem verstorbenen Mann er-
halten, gesehen. Heute war es fort. Sie schwieg.
Was sollte aber geschehen, wenn es einmal nichts mehr
zu versetzen gab? Sie wußte es nicht. Eine viel
härtere Dual, verzweifelnde Angst erfüllte ihr Herz
seit heute morgen, als ein Mann gekommen war, der
Nodolfo zum Procuratore Bentivoglio gerufen hatte.
Seitdem lag sie vor einer kleinen, aus Holz geschnitzten
und bunt bemalten Madonna, die in einem Winkel
ihrer Wohnung hing, auf den Knieen und betete und
weinte in der Not ihres Herzens. Was sollte sie
sonst thun? Es war ihr einziger Trost.
So fand sie ihr Sohn noch, als er gegen Mittag
wieder nach Hause kam. Verächtlich zog er die Mund-
winkel herab, nahm feinen Hut ab und warf die Hand-
schuhe hinein. Hastig hob sie den Kopf, freudig stieß
sie einen lauten Schrei aus und lag im nächsten
Augenblick weinend an seinem Halse.
„Du bist wieder da, Nodolfo?" brachte sie wie er-
löst hervor, ihn auf beide Wangen küssend. „Dank
der Madonna und den Heiligen, daß du wieder da
bist, mein Sohn!"
„Warum sollte ich denn nicht da sein?" sagte er
kurz und mürrisch, sie unsanft abwehrend. „Bin ich
nicht alle Tage da? Ich wünschte, du hättest etwas
zu essen hergerichtet, statt —"
„Ich gehe ja schon, Nodolfo — sage nichts Sünd-
haftes! Du sollst nicht lange warten. Hast du Hunger?
Ja, ja doch. Ich gehe schon. Du erzählst mir nach-
her, was der Procuratore von dir wollte, nicht wahr,
mein Liebling?"
„Mutter —" begann er im drohenden, ärgerlichen
Ton.
„Ja, sofort. In fünf Minuten sollst du essen.
Nur ein wenig Geduld. Ich bin sofort zurück."
Sie küßte ihn wieder und immer wieder, trotz der
abwehrenden Bewegungen Nodolfos, und wußte in der
ersten Freude darüber, daß man ihren Liebling nicht
eingesperrt hatte, wie sie wohl befürchtet haben mochte,
nicht, was sie thun sollte. Endlich aber verließ sie
das ärmliche Gemach, eilte auf den Gang hinaus und
trat von dort auf die Straße. Gegenüber, aus der
anderen Seite, befand sich ein kleines Gäßchen, an
dessen Ecke eine Gemüsefrau ihren Stand hatte. Mit
dieser dicken, behäbigen, schmutzigen Frau stand die
Marchesa Esperanza schon seit einiger Zeit in einem
seltsamen Verhältnis.
Die Gemüsefrau erfreute sich nämlich eines sehr
beträchtlichen Kindersegens, konnte aber infolge ihres
Geschäftes sich nicht immer um die zahlreiche Nach-
kommenschaft kümmern. Da sprang dann die Marchesa
manchmal helfend ein mit etwas Wasser und Seife,
einem Kamm, einer geflickten Hosö und dergleichen —

aus nachbarlicher Freundschaft natürlich, und nicht
etwa so, daß man Hütte sagen können, sie sei die Warte-
frau oder das Dienstmädchen der Gemüsefrau gewesen.
Die nachbarliche Freundschaft glich sich dann durch
einige Kartoffeln, etwas Grünkram, Zwiebeln und
Möhren aus, die die Marchesa mit der Versicherung
entnahm, augenblicklich kein Kleingeld zu haben. Das
stimmte auffallend. Die Marchesa hatte meistens kein
Kleingeld. Daß sie auch kein großes besaß, brauchte
ja niemand zu wissen. Indessen, Donna Onoria —
so hieß die Gemüsefrau — wußte sehr wohl, wie die
Sache stand, sagte aber gleichwohl nie etwas darüber.
„Donna Onoria," sagte die Marchesa, „ich nehme
für einen Soldo Kohl und einige Zwiebeln, nicht
wahr? Wir werden schon wieder einig."
„Nehmen Sie, Frau Marchesa, nehmen Sie ruhig,
was Sie brauchen," erwiderte die würdige Donna
Onoria, ohne eine Miene zu verziehen.
Aus diesen Stoffen entstand dann in verhältnis-
mäßig kurzer Zeit das Mittagessen für Nodolfo und
seine Mutter: eine nach streng vegetarianischen Grund-
sätzen hergestellte Grünkramsuppe. Fleisch gab es nicht.
Der Fleischermeister, der in der Nähe war, hatte keine
Kinder, war also für die Marchesa unerreichbar.
„Schmeckt dir's, Nodolfo?" fragte seine Mutter
teilnahmsvoll, als sie ihr Gericht serviert hatte.
Dieser brummte etwas Unverständliches.
„Und was wollte der Procuratore von dir wissen?"
forschte die Marchesa weiter.
„Allerhand! Der alte Righetti hat sich heute nacht
erschossen."
„Heilige Madonna!" rief die Marchesa erschrocken
aus. „Was sagst du?"
„Oder ist erschossen worden, was weiß ich? Der
Staatsanwalt wollte von mir wissen, was ich von der
Sache wüßte, weil ich gestern abend noch bei ihm
war."
„Nun? Und was wußtest du?"
„Nichts!"
Es entstand eine kleine Pause. Die Antwort, kurz
und scharf wie sie war, schien die alte Frau eher zu
beunruhigen, als zufrieden zu stellen. Sie sah ihren
Sohn forschend und prüfend an, der eine sehr harm-
lose Miene machte und mit dein Löffel die Reste seiner
Suppe zusammenschob.
„Das Unangenehme dabei ist," fuhr der Marchesino
harmlos fort, „daß dieser Trauerfall meine Verlobung
mit Giovanna aufschiebt."
„Ah -"
„Man kann selbstverständlich nicht daran denken,
unter solchen Umständen eine Verlobung und Hochzeit
zu feiern."
„Das ist aber sehr schlimm, Nodolfo. Es wird
hier immer leerer und leerer, und ich weiß nicht, wie
das werden soll, wenn nicht —"
„Laß das nur gut sein. Ich werde in den nächsten
Tagen schon Geld bekommen, genug, um alles abwarten
zu können."
„Du wirst Geld bekommen?" fragte seine Mutter
erstaunt.
„Ja. Einige hundert Lire, vielleicht auch tausend —"
„Woher?"'
„Ich habe ein Geschäft vor, bei dem ich ganz
sicher ein gutes Stück Geld verdienen werde."
„Ein Geschäft?" rief die Marchesa überrascht. Offen-
bar wußte sie noch nicht, ob sie sich darüber freuen
oder bekümmern solle, denn sie fuhr nach einer un-
merklichen Pause zweifelnd und fragend fort: „Es ist
doch auch ein ehrliches, Nodolfo?"
Er machte eine ungeduldige Bewegung. „Wenn
ich es mache, kannst du sicher sein, daß es ein ehrliches
ist. Machen denn nicht andere Leute auch Geschäfte,
bei denen sie Hunderte und Tausende verdienen?
Warum zweifelst du gerade bei mir in dieser Weise?"
Er that fast beleidigt, und seine Mutter wurde da-
durch etwas beruhigt. „Was ist's für ein Geschäft?"
fragte sie aber nochmals.
„Du wirst es später erfahren. Es ist ein Handels-
geschäft wie jedes andere, aber man spricht vorher
nicht davon, um andere Leute nicht aufmerksam zu
machen und den Gewinn nicht in Frage zu stellen.
Das begreift sich doch wohl."
Die Marchesa hatte in ihrem Leben wohl schon
einigemal von Handelsgeschäften reden hören, und da
sie wußte, daß dabei manchmal sogar sehr viel Geld
verdient werden konnte, so hatte sie vor solchen Ge-
schäften einen riesigen Respekt. Wenn es Nodolfo
glückte, auch solche Geschäfte zu machen, so war ja
das der Gipfel der Zufriedenheit für sie. Um nun
diese geheimnisvollen Geschäfte nicht zu stören, fragte
sie nicht weiter und nahm von Nodolfo mit vielen
Segenswünschen Abschied, als er sogleich nach dem
Essen aufstand und nach Hut und Handschuhen griff.
Der unangenehmste Aufenthalt, den der Marchesino
kannte, war seine Wohnung. Er kam dahin nur, um
zu essen und zu schlafen und lief wieder fort, sobald
das geschehen war. Nun war ja allerdings diese
Wohnung elend genug, aber andere Leute in Nom

wohnten doch auch nicht besser und waren doch zu
Hause, wenn sie auf der Straße nichts zu thun hatten.
Er ging ein kleines Stück die Via Giulia entlang
und bog dann in ein kleines, schmutziges Gäßchen ein,
das den Namen Vicolo del Mascherone oder Larven-
gasse — von einer in dem Eckbrunnen eingemauerten
antiken Steinmaske — trug. Allerhand lichtscheues
Gesindel treibt sich dort umher, und auf dem Pflaster
sieht man noch den Unrat der letzten Wochen und
Monate liegen, weil kein Mensch sich um Ordnung und
Reinlichkeit kümmert.
Bald darauf kam er an den Ruinen des alten
Marcellus-Theaters vorüber und stand wenige Minuten
später in der Via bocca della verita *) vor dem
schäbigen, unglaublich verkommenen und schmutzigen
Laden eines Pfandleihers.
Eine Firma, ein Namensschild war nicht vorhan-
den. Die Kunden dieses Geschäftes bedurften dessen
wohl nicht, um es zu finden, und der Inhaber selbst
war offenbar gar nicht darauf erpicht, seinen Namen
in die Öffentlichkeit zu bringen.
In dein kleinen Schaufenster, das sich neben der
Thür befand, prangten drei Paar alte Stiefel, ein
Paar kleine Kinderschuhe, zwei Paar Hosen und einige
Kattunschürzen, alles verstaubt, unansehnlich und
ärmlich.
Im Inneren sah man altes Gerümpel, Hausgerät,
Kleider und Wäschebündel, die herumstanden und
-lagen, alles gleichfalls staubig und schmutzig. Das
Lokal war klein und düster. Durch die verstaubten,
zersprungenen und dann wieder mit Papier verklebten
Scheiben, die obendrein mit einem fleckigen roten Vor-
hang verdeckt waren, um unberufene und neugierige
Blicke von draußen abzuhalten, drang nur wenig Licht.
Hinter einem kleinen Ladentisch saß eine alte, dicke
Frau in fettigen unordentlichen Kleidern von ganz un-
ergründlicher Farbe.
Hierher also führten den Marchesino seine Geschäfte.
Schon die Sicherheit, mit der er den Weg hierher ge-
funden, ließ darauf schließen, daß er diese Trödler-
bude nicht zum erstenmal betrat. Wirklich hatte er
auch schon vielerlei hier verkauft und versetzt, so erst
jüngst das letzte Schmuckstück seiner Mutter, das goldene
Medaillon.
„Guten Tag, Herr Marchese, die Madonna segne
Sie, mein ehrenwerter Sor Nodolfo. Sie beglücken
mich. Ich freue mich zu sehen, daß es Ihnen wohl
geht. Womit kann ich Ihnen dienen?" redete die dicke
Frau den Marchesino mit aufdringlicher Freundlichkeit
an. Trotzdem ruhten aber ihre Augen so kalt und
prüfend auf dem jungen Mann, als hätte sie fragen
wollen: „Nun, mein Bürschchen, hast du denn noch
was? Ist bei dir noch was zu holen?"
„Sie wissen, weshalb ich komme, Paolotta," ent-
gegnete der Marchesino rasch und leise, als wenn er
etwas Geheimnisvolles verstohlen zu besprechen wünsche.
„Gott soll mich strafen hier und dort, wenn ich ein
Sterbenswort davon weiß, mein Teuerster. Um was
handelt es sich?"
„Um das Halsband. Ich habe Ihnen doch schon
davon erzählt."
„Wirklich? Himmlischer Vater, wie vergeßlich alte
Leute sind. Nun gut, das Halsband, mein ehrenwerter
Herr Marchese. Was ist's mit dem Halsband?"
„Sie haben nichts darüber erfahren? Sie wissen
doch sicher, wohin es gekommen sein kann."
Die alte Frau that so erschrocken, als wenn der
leibhaftige Tod zu ihr herangetreten wäre.
„Ich? Heilige Madonna droben, was glauben
Sie von mir, Herr Marchese? Denken Sie, ich stünde
mit Dieben und Gaunern in Verbindung, um wissen
zu können, wohin alle gestohlenen Sachen kommen?
Bei meiner armen Seele, Sie können mich totschlagen,
wenn ich eine Silbe davon weiß."
„Machen Sie doch nicht so viele Redensarten,
Paolotta. Das kennen wir schon. Hören Sie lieber-
ruhig zu und geben Sie vernünftige Antworten."
„Ich wollte Ihnen nur erklären, daß ich nichts
damit zu thun habe."
„Ja doch. Also hören Sie zu. Das Halsband
hat einen Goldwert von zweihundertfünfzig bis höchstens
dreihundert Lire —"
„Ja, ja. Aber es ist Tausende wert, mein Schatz.
Das kennen nur auch. Römische Altertümer werden
teuer bezahlt."
„Ich sage Ihnen aber, daß der Mann sicher in
die Falle laufen wird, wenn er das Halsband als
solches verwerten null. Die Polizei hat an alle Ju-
weliere, an alle Händler und Sammler eine Abbildung
und genaue Beschreibung verteilt —"
A Die Via boeea della verita (Straße des Mundes der
Wahrheit) trägt ihren Namen seit dem frühen Biittelalter
Der Überlieferung nach befand sich dort ebenfalls eine alte
Steinmnske (vermutlich an dem nahen Mareellus-Theater),
an der die Römer, indem sie die Hand in die Mundösfuung
der Maske steckten, ihre Eide ablegten, in dem Glauben, daß
der steinerne Mund sich bei einem Meineid schließen und so
dem Schwörenden die Hand zermalmen werde.
 
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