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Ljelt 22.

Das Bu eh f ü r A l l e.

58.)

Das Kaufhaus iu Kubleu;.
"7^ie alte Rönierstadt und jetzige Festung ersten Ranges,
D) Koblenz, am Zusammenfluß des Rheins und der Mosel,
nimmt sich am stattlichsten oom Nheinguai aus. Von dort
gelangt der Fremde, der einen Rundgang durch die aus
der enggebanten Altstadt und der Neu- oder Klemens-
siadt mit schönen, breiten Straßen bestehende Stadt unter-
nehmen will, durch die Rheinzollstraße^ zur ehemaligen
Stifts- und jetzigen Pfarrkirche St. Kastor. Gegenüber
dem Portal dieses' über tausendjährigen, dreischiffigen Kreuz-
baues mit seinen vier Türmen steht der Kaflorbrunnen,
einige Schritte weiter befindet sich links das General-
kommando, der ehemalige von der Leyensche Hof. Dort
wohnten während der ersten Zeit der französischen Re-
volution die Grafen von Provence und von Artois, nachmals
Ludwig XVtli. und Karl X. In westlicher Richtung weiter

C t xchlung non

1.
rmand Durieu hatte in seinem bescheidenen
Mansardenzimmerchen seine Morgentoilette
beendet und trat nun an das Fenster. Er zog
den weißen Vorhang zurück und öffnete die
Fensterflügel. Wie gebannt blieb er stehen. Nur getrennt
durch eilte schmale Gasse der inneren Pariser Stadt stand
gegenüber eilt anderes Haus, und in diesem bot sich den
Blicken Durieus eilt entzückendes Bild. In dein Nahmen
eines Mansardensensters, umgeben von duftigem Blatt-
grün, sah er eilt eifrig mit einer Stickerei beschäftigtes
junges Mädchen sitzen. Eilt Maler hätte keinen schö-
neren Kopf, keilte schönere Figur malen können.
Jetzt sah das Mädchen aus, erblickte den jungen
Mann, errötete und senkte sofort die Augen wieder.
Aber Armand Durieu hatte gesehen, daß es ein Paar-
leuchtende, blaue Augen waren, die vortrefflich zu dem
goldblonden Haar rind zu dem weißen, rosig angehauchten
Gesichtchen mit seinem lieblichen Oval paßten.
Als Armand Durieu sich räusperte, sah das junge
Mädchen noch einmal zu ihm herüber, und er grüßte
sie durch eiire Verbeugung, die sie mit einem liebens-
würdigen und doch zurückhaltenden Kopfnicken beant-
wortete. Als er aber dann fortfuhr, sie anzustarren,
zog sie den weißen Vorhang an ihrem Fenster vor, so
daß ihre Gestalt vollkommen verborgen war.
Armand Durieu trat vom Fenster zurück, sah erschreckt
uach seiner Uhr und beeilte sich, tun noch rechtzeitig nach
dem Burecm . Rechtsanwalts, bei dein er als Schreiber
aitgestellt war, -u kommen. Er ging wie im Traum
durch die Straßen, er setzte sich wie im Traum an seinen

gelangt man durch die Kastorstraße nach dem Frachtmarkt,
wo sich rechter Hand das sehenswerte ehemalige Kaufhaus
der Stadt (siehe die untenstehende Ansicht! mit zierlichen
Erkertürmchen nach der Wasserseite und einem Hauptturm
erhebt. Durch vier Jahrhunderte (bis 1805! war der alter-
tümliche Bau das Rathaus von Koblenz, seitdem dient es
Schulzwecken, zuerst als Sitz der Gewerbeschule und jetzt der
Ober-Realschule. Unter der Turmuhr befindet sich ein
Wahrzeichen der Stadt, nämlich ein Bild des auf dem Frucht-
markt Hingerichteten Raubritters Lutter v. Kobern; er hat
bewegliche Augen und öffnet bei jedem Stundenschlage zum
Ergötzen der Jugend den Mund. Unmittelbar mit dem Kauf-
haus hängt das rechts sich anschließende Gebäude zusammen,
das alte Schöffenhaus. Es nahm in neuerer Zeit das
städtische Eichungsamt auf, und durch eine zweckmäßige Re-
staurierung sind auch noch Räume für die städtische Bilder-
galerie, sowie für das Museum und die Sitzungen des Kunst-,
Kunstgewerbe- und Altertumsvereins gewonnen worden.

D. B. Waeren.
Platz und schrieb wie im Traume allerhand Auszüge
aus Gutachten und juristischen Erklärungen, und zwar
so schlecht, daß er die Sachen sämtlich noch einmal
schreiben mußte.
Seine Unaufmerksamkeit trug ihm einen scharfen
Verweis des Bureauvorstehers ein, und Armand sah
ein, daß dieser Verweis gerecht war. Er konnte aber
kaum die Stunde erwarten, bis er am Abend wieder
nach seiner Mansarde zurückkehrte, weil er hoffte, er
würde die liebliche Erscheinung am Fenster gegenüber
wiedersehen.
Aber er täuschte sich; der Vorhang war und blieb
zugezogen, und selbst als es finster wurde und Lampen-
licht hinter den Fenstern jenseits der Straße erschien,
sah man nicht den kleinsten Schatten auf dem Vorhang
sich abzeichnen.
Armand Durieu war erst am Tage vorher in die
neue Wohnung eingezogen, und kannte daher noch nicht
die Gepflogenheiten der Nachbarschaft. Aber acht Tage
später wußte er darüber Bescheid. Das schöne Mädchen,
mit dem er seitdem täglich einen Gruß wechselte, hieß
Marion Element und war die Nichte der Frau Thi-
baudier, der kinderlosen Witwe eines kleinen Staats-
beamten. Frau Thibaudier lebte mit ihrer Nichte sehr-
zurückgezogen, machte mit ihr nur in den Abendstunden vor
Einbruch der Dunkelheit einen Spaziergang über die
Boulevards, und den ganzen Tag über saß Marion bei
ihrer Stickerei. Die Frauen der Nachbarschaft erzählten
sich, sie sei eine Künstlerin im Sticken, und ihre Produkte
würden in dell großartigen Magazinen der Boulevards
teuer bezahlt. Marion erfand nämlich auch die Muster.

Zweimal wöchentlich ging sie, begleitet von ihrer
Tante, zu den Proben des Kirchenchors, dem sie an-
gehörte. Sonntags sang sie auf dem Kircheilchor, und ihre
herrliche Stimme war in der ganzen Gemeinde bekannt.
Armand ging natürlich auch in die Kirche, um
Fräulein Marion singen zu hören, und als er dann nach
Hause kam, war es um ihn geschehen. Er liebte Marion
bis zur Raserei.
Einige Zeit danach fand er, als er des Abends nach
Hause kam, auf dein Tisch seines Zimmers einen Brief
vor. Er kam von Frau Thibaudier, und die würdige
Dame schrieb Armand, sie bäte ihn um eine Unterredung.
Sonntags nach der Kirche sei sie für ihn zu sprechen.
Es liege im beiderseitigen Interesse, daß diese Unter-
redung recht bald stattfinde.
Welche Gedanken dieser Brief in dem jungen Manne
erregte, welche Hoffnungen in
ihm wach wurden! Wollte Frau
Thibaudier mit ihm wegen
ihrer Nichte sprechen? Hatte
sie seine Liebe bemerkt, oder
war es nur irgend eine Ge-
schäftssache?
Wie langsam schlichen die
Stunden dahin, bis der Sonn
tag kam!
Aber er kam endlich doch
herauf, so goldig und strah-
lend, wie nur ein Herbstsonn-
tag in Paris sein kann. Armand
Durieu ging in die Kirche und
berauschte sich wieder an dem
Gesänge Marions. Als er die
Kirche verließ, traf er mit der
Geliebten einen Augenblick zu-
sammen und wurde durch
einen stummen Gruß von ihr
beglückt. Eine halbe Stunde
später saß er in dem Zimmer
der Frau Thibaudier und be-
trachtete mit außerordentlichem
Interesse das Gesicht der alten
Dame, die mit ihren scharfen
Zügen und der starken Habichts-
nase keineswegs einen beson-
ders liebenswürdigen Eindruck
machte.
„Meine Nichte ist nicht an-
wesend," begann Frau Thi-
baudier, „wir können deshalb
ganz ungeniert sprechen. Sie
ist ausnahmsweise mit meiner
Erlaubnis von einer Freundin
aus dem Kirchenchor zu Tisch
gebeten worden. Ich habe Sie
mn diese Unterredung ersucht,
Herr Durieu, weil ich hoffe,
durch dieselbe eine Unbequem-
lichkeit für mich zu beseitigen.
Dadurch, daß Sie unser Gegen-
über geworden sind, bin ich gezwungen, möglicherweise
meine Wohnung, die ich seit länger als zwanzig Jahren
inne habe, zu verlassen. Sie interessieren sich für
meine Nichte, und ich fürchte, auch meine Nichte nimmt
an Ihnen mehr Interesse, als nötig ist. Ich habe
mich nach Ihren Verhältnissen erkundigt und erfahren,
daß Sie ein Mann sind, dem sich nur Gutes nachsagen
läßt. Aber Sie haben kein Vermögen. Eine aussichts-
lose Liebelei mit meiner Nichte kann ich nicht dulden,
und zu einer Heirat ist keine Aussicht-, denn abgesehen
davon, daß Sie nicht in der Lage sind, eine Frau zu
ernähren, kann meine Nichte nur dann heiraten, wenn
sie mir zehntausend Franken zurückzahlt, die sie mir-
schuldig ist. Ich bin nämlich nicht die rechte Tante
Marions, sondern nur eine entfernte Verwandte. Als
die Eltern Marions bei einem Eisenbahnunglück beide
ums Leben kamen, habe ich mich der Kleinen angenommen.
Die Eisenbahngesellschast zahlte bis zum vierzehnten
Lebensjahre Marions eine kleine Rente, die aber knapp
ausreichte, um das Kind zu ernähren. Ich habe Marion
eine gute Bildung zu teil werden lassen, sie erzogen,
seit dem vierzehnten Jahre lediglich auf meine Kosten,
und als sie vor wenigen Monaten mündig wurde, hat
sie mir eine Anerkennung über eine Schuldsumme von
zehntausend Franken mit den noch laufenden Zinsen
ausgestellt. Der Mann, der Marion heiraten will, muß
mir diese Summe zurückzahlen, andernfalls muß Marion
sie abarbeiten. Das kleine Gehalt, das sie als Sängerin
des Kirchenchors bekommt, dient gerade dazu, den not-
dürftigsten Lebensunterhalt für sie zu bestreiten. Der
Ertrag ihrer Stickereien fällt mir zu und dient zur Ver-
zinsung und allmählichen Tilgung der Summe, die mir
Marion schuldig ist. Das Mädchen ist schön und be-
gehrenswert, und wird wohl einmal einen Freier finden,
der sie von mir auslöst und mir ihre Schuld bezahlt.
Dann mag sie heiraten. Solange ich aber ihre Gläu-
bigerin bin, hat sie nicht das Recht, nach Belieben zu
heiraten, und sie wird es auch nicht thun."


Jas Kaufhaus tu Koblenz. Nach einer Photographie von Römmler L Jonas, Hosphotographen in Dresden.

Eitle seltsame Spiekulativn.
 
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