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Das B u ch f ü r A l l e.

„Sie haben die Notleine gezogen."
„Ja, freilich."
„Warum haben Sie das gethan?"
„Weil ich hier irgendwo herum in einen: Dorfe ein
notwendiges Geschäft zu besorgen habe und deshalb aus-
zusteigen wünschte."
„Es muß gemeldet werden."
„Melden Sie es immerhin; ich habe dagegen durch-
aus nichts einzuwenden."
„Das kostet dreißig Mark Strafe."
„Hahaha! Daraus mache ich mir nichts."
„Wer sind Sie, wie heißen: Sie?"
„Ich heiße Müller und bin aus Berlin. Notieren
Sie das, wenn es Ihnen: Vergnügen macht. Adieu,
mein lieber Eisenbahnrat! Leben Sie wohl, meine
Herren! Je! ./'fehle mich Ihnen bestens auf Nimmer-
wiedersehen!"
Danach setzte er seine langen Beine in Thätigkeit
und lief querfeldein.
Einen Augenblick schien der höchlichst entrüstete

Schaffner geneigt zu sein, ihm nachzurcnnen, gab aber
dann diese Idee auf, wahrscheinlich, weil er das Unter-
nehmen entweder für gänzlich aussichtslos oder doch für
zu zeitraubend halten mochte.
„Kannten Sie den Herrn?" fragte er den Vieh-
händler.
„Nein," sagte dieser. „Er stieg in Neuzelle ein."
„Das weiß ich."
„Em richtiger Spaßvogel! Er hat uns herrlich
amüsiert."
„Hol ihn der Teufel! Ich null doch seinen Namen
notieren."
„Müller aus Berlin?"
„Jawohl."
„Haha! In Berlin giebt es viele tausend gute und
wohl auch einige böse Leute, die Müller Heißei:. Da
dürfte es also vermutlich ziemlich schwierig sein, den
Herrn ausfindig zu machen."
„Ich muß allerdings befürchten, daß Sie darin recht
haben."

_ Heft 2T
In verdrießlicher Stimmung entfernte sich der
Schaffner und gleich darauf setzte sich der Zug wieder
in Bewegung.
„Schade, daß er fort ist," sagte der Viehhändler.
„Wer?" fragte der Schlächtermeister, „der Schaffner?"
„Nein, ich meine natürlich den Spaßvogel. Das war
ein höchst ergötzlicher Mensch."
„Sonderbar ist's doch, daß er so plötzlich den Zug
verließ."
„Er hatte ja, wie er sagte, Geschäfte irgendwo da
in der Gegend. Ha, ha! Das paßte also gut zu sei-
nen: Ulk."
„Hin!" brummte etwas ungläubig und kopfschüttelnd
der Schlächter.
Sechs oder sieben Minuten lang hatte die Fahrt
wieder gedauert, als plötzlich der dicke Viehhändler wie
ein Wahnsinniger sich zu gebärden anfing.
„O verwünscht!" schrie er, indem er ai: sich herum-
tastete. „Was ist das? Ha, der elende Wicht, der ver-
dammte Schurke! Der Lump!" Und ehe nur uns

Aas neue Woklrsbad irr München. Nach einer Photographie von Jaeger L Go er gen in München. (S. 609)


dessen versahen, sprang er wie ein Besessener von seinen:
Sitze auf und zog ungestüm die Notleine.
Abermals erscholl ein schriller Pfiff. Es wurde ge-
bremst und der Zug hielt an.
Der Schaffner lief höchst aufgeregt herbei und riß
die Thüre zu unserem Abteil auf. Er befand sich in
der schlechtesten Lamm.
„Schor: wieder!" rief er grimmig. „Was ist denn
nur: los? Wer zog die Notleine diesmal?"
„Ich," versetzte der Viehhändler.
„Warum?"
„Ich bin schändlich bestohlen worden. Meine Brief-
tasche ist verschwunden."
„War denn viel darin?"
„Dreitausend und siebenhundert Mark in Reichs-
kassenscheinen."
„Potztausend, ein schönes Sümmchen! Und Sie
glauben vermutlich, daß der Mensch, der vorhin auf
solche sonderbare und auffallende Art der: Zug verließ,
den Diebstahl verübt hat?"
„Jawohl, davon Lin ich überzeugt."
„Deshalb zöger: Sie die Notleine?"

„Ja. Der Dieb muß schleunigst verfolgt werden."
„Bester Herr, Sie müssen doch einsehen, daß solches
jetzt augenblicklich ganz unnütz, ja unmöglich ist. Wir
sind seitdem ja schor: eine ganze Anzahl Kilometer weiter-
gekommen, und er ist auch nicht mehr da, wo wir ihr:
verließen. Sie hatten also keine genügende, keine
zwingende Ursache, die Notleine zu ziehen, und werden
deshalb eine Geldbuße bezahlen müssen."
„Daran dachte ich nicht — ich war so bestürzt, als
ich der: Verlust meiner Brieftasche entdeckte —"
„Ich muß den Vorfall dienstlich melden. Man wird
schwerlich Ihren Entschuldigungsgrund gelter: lasser:. Ein
wenig Nachdenken Hütte es Ihnen gleich klar machen
müssen, daß es ganz nutzlos sein würde, das zu thun,
was Sie gethan Was der: Diebstahl betrifft, dessen
Opfer Sie geworden, so rate ich Ihnen, wenden Sie
sich sogleich nach der Ankunft irr Frankfurt ar: die
Polizei."
„Das werde ich selbstverständlich thun."
„Ob sie diesen spitzbübischer: Müller aus Berlin
ausfindig wacher: kam:, erscheint freilich recht fraglich,
um so mehr, als anzunehmen ist, daß der Spaßvogel,

wie Sie zuerst ihn nannten, sich einen falschen Namen
beigelegt hat."
Danach ging der Schaffner weg und die Fahrt wurde
fortgesetzt.
"Der Dicke befand sich nun gm nicht, mehr in hciterer
Larrne. Anstatt die Schwänke des mch-swOrdigen Spaß-
vogels noch ferner zu bewundern scbim; - e er mörder-
lich über ihr: und schwur ihm furchte- >e krache, wenn
er ihn erwischen könne.
Der biedere Schlächtermeister meinte, das- dazu wohl
leider nicht viel Hoffnung sei. Der Burscne s t zweifellos
einer der Schlauesten seines Gelichters uno wüW- es ver-
mutlich verstehen, sich und seinen Raub in irgend ,..wr
Großstadt in Sicherheit zu bringen, um das erbeutete
Geld da -msch zu verjubeln."
Nun mischte ich mich ins Gespräch, indem ich sagte:
„Ich muß diesen Menschen schon früher einmal gesehen
habe::, dein: er kam mir gleich bekannt vor."
„Wo haben: Sie ihn früher gesehen?" fragte inter-
essiert der Viehhändler.
„Darauf vermag ich mich leider nicht zu besinnen
„Dann nützt das freilich nicht viel."
 
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