Hcst 24,
„Ich dank' Ihnen, Brigitta. Gehen S' jetzt 's
Hansel suchen. Er soll doch da sein."
Als Nieder seiner Frau mitteilte, was bei ihrer
Schwester erwartet wurde, leuchteten die Augen der
Kranken auf: „Gott sei Dank! Wenn'ä nur gut ab-
geht, dann wird auch alles andere besser. Das macht'
i' noch erleben, daß i' weiß, ob 's ein Büberl is, wie
bei uns."
„Aber Klara, du wirst 's noch umlaufen sehn."
Auf diesen zaghaft ausgesprochenen Trost antwortete
Klara bloß mit einem schwachen, ungläubigen Lächeln.
Nach einer Weile klang im Hausflur das Glöckchen
des Ministranten, das die Ankunft des Geistlichen an-
kündigte. Im Nebenzimmer wurde das gedämpfte
Murmeln vieler Menschenstimmen hörbar. Tie Nach-
barn waren gekommen, um für die Sterbende zu beten.
Gleich darauf öffnete sich die Thür, und Pfarrer
Althaus trat ein, im weißen Chorhemd, das verhüllte
Allerheiligste in den Händen. Das glatt rasierte Gesicht
des Priesters drückte die tiefste, kaum beherrschte Be-
wegung aus.
Rieder hatte sich erhoben. In der Haltung ver-
zweifelten Schmerzes stand er einen Augenblick vor
seinen: geistlichen Freunde, dann deutete er mit einer
mutlosen Bewegung der Rechten auf das Krankenbett
und schlich hinaus in das Wohnzimmer.
Das war gedrängt voll Menschen. Mitten unter
ihnen sah Rieder die Magd mit Hansel, der neugierig
und ängstlich zugleich um sich blickte. Er faßte sein
Kind an der Hand, sank mit ihm, das Gesicht nach der
Thür zum Krankenzimmer gewendet, in die Kniee, und
siel mit zitternder Stimme m das laute Gebet ein, das
die ernst blickenden Menschen um ihn her jetzt zu sprechen
begannen.
Endlich öffnete sich die Thür wieder. Unter Vor-
antritt des kleinen Ministranten erschien der Priester in
ihr und schritt durch die Gasse, die die Andächtigen zu-
rückweichend frei machten.
Vor Nieder blieb er einen Augenblick stehen und
fragte: „Sie kommen natürlich zu mir, sobald ... so-
bald Sie können?"
Der Uhrmacher nickte, und der Pfarrer schritt weiter.
Hinter ihm verließen die Nachbarn und die Nach-
barinnen auf den Fußspitzen das Genrach, nachdem sie
Nieder schweigend die Hand gedrückt hatten. Als die
Thür sich Himer dem letzten geschlossen hatte, hörte der
Vater die Helle Stimme seines Sohnes an sein Ohr
schlagen.
„Das is aber schön g'wesen! Darf i' jetzt wieder
fort?"
Er schüttelte den Kopf. „Nein, Hansel! Du sollst
bei der Mutter bleiben, hat der Herr Pfarrer g'sagt."
Als dis beiden das Schlafzimmer wieder betraten,
sah ihnen die Kranke mit verklärten Augen entgegen.
„Ich bin dir so dankbar, Tobias! Mir :s jetzt
so gut und leicht... g'rad zum G'sundwerdenis mir.-
Komm, mein Hanserl, gieb deiner Mutter ein Bussel —
so — noch eins — so — so — so! — Und jetzt kannst
wieder spielen gehn. Mutter möcht' schlafen."
„Aber nit z' weit fort vom Haus!" raunte der Uhr-
macher dein Kleinen zu. „Vielleicht . . . vielleicht
kommt der Herr Pfarrer wieder."
Der Knabe nickte mit den: blonden Köpfchen und
sprang davon. Nieder setzte sich auf das Bett Klaras,
nahm ihre hagere, feuchte Rechte zwischen seine beiden
Hände und sah ihr liebevoll in das blasse Gesicht.
„Mein lieber Tobias!" flüsterte die Kranke. Nach
einer kleinen Weile fügte sie hinzu: „Schlafen möcht' ich."
Der Mann blieb bei ihr sitzen, hielt ihre Hand rind
sah zu, wie sie einschlief.
(goriscizuug folgt )
Die Ereignisse in Mnsien.
xv.
(Siehe doS Bild auf Seite 63L uud 635.)
Chinaexpedition scheint sich nun allmählich ihrem Ende
zuzuneigen, worüber allseitige Befriedigung geäußert wird.
Kaiser Wilhelm II. hat das deutsche Pnnzcrgeschwader zurück-
berufen und zugleich befohlen, die Auflösung ' des deutschen
Armeeoberkommandos in Ostasien, sowie die Verringerung des
ostasiatischcn Expeditionseorps vorzubereiten. Das vermin-
derte Expeditionscorps wird daun, wie angenommen werden
darf, 3000 bis 4000 Mann (abgesehen von der Schutzwache in
Peking und den Etappenskreitkrästen auf dem Wege" von der
chinesischen Hauptstadt bis zum Meere) nicht übersteigen, denen
vor allen: die Ausgabe obliegen wird, die Ausführung des
zwischen den diplomatischen Vertretern der Mächte und den
chinesischen Bevollmächtigten getroffenen Abmachungen zu
überwachen. Das; in diesen Abmachungen auf die Aus-
lieferung und Hinrichtung der Hauptschuldigen, vor allem
des Prinzen Tuan, verzichtet wurde, war ein durch die Lage
der Dinge gebotener, aber bei seiner Rechtzeitigkeit auch ein
kluger Schritt der deutschen Politik. Von diesen Rebellen-
häuptlingen soll sich Tungfusiang mit wenig Truppen in
der Provinz Kansu befinde,:, Tuan aber mit einigen Be-
gleitern nach der Mongolei geflüchtet sein. Zahlreiche andere
Führer der Boxer und chinesische Beamte, die mit diesen
Das Buch für Alle.
637
gemeinschaftliche Sache machten, sielen dagegen in die Gewalt
der verbündeten Truppen. Sie wurden den chinesischen Be-
hörden zur Bestrafung ausgeliefert, die sie gewöhnlich kurzer
Hand hinrichten ließen. Eine solche Hinrichtung von Boxer-
anführern stellt unser Bild auf S. 634 und 630 dar. Ihr
Schauplatz war Jtschau, eine bedeutende befestigte Stadt, gegen
120 Kilometer südwestlich von Peking, die den Mittelpunkt
einer gefährlichen Boxsrbewegung gebildet hatte, welche durch
französische Streitkräfte unterdrückt wurde. Ein kleiner Man-
darin voi: Siling und zwei andere Boxerführer waren ge-
fangen genommen und den: Mandarinen von Jtschau ausge-
liesert worden, der sie zum Tode verurteilte. Der Hinrichtung
wohnte unter einem Zelte der Mandarin von Jtschau bei,
angethan mit der für solche Fälle herkömmlichen roten Robe
und umgeben von seinen Beamten und einer Abteilung der
chinesischen Garde, welche Piken in Form großer langer
Schwerter trugen. Außerdem war die französische Garnison
bei den: traurigen Akts zugegen. Die drei Verurteilten
wurden nut entblößten: Oberkörper und nut auf den: Rücken
zusammengebundenen Händen vorgesührt. Auch der Henker
und seine Gehilfen hatten ihre Oberkleider abgelegt. Den:
Mandarine,: von Siling verschaffte seinTitel dieVergünstigung,
als erster geköpft zu werden. Er mußte etwa 15 Meter vor
den: Zelte seines Kollegen von Jtschau auf dem Rasen nieder-
knieen. Einer der Gehilfen des Henkers packte seinen Zopf,
um den ein dem Delinquenten durch den Mund gezogener
Riemen geschlungen wurde, und zog daran, während der
andere Gehilfe die gefesselten Arme des Opfers ergriff und
ihm den einen Fuß ins Kreuz stemmte. Dann hob der Henker
sein breites, krummes Schwert, und in: nächsten Augenblick
rollte der abgeschlagene Kopf auf den Boden. Die gleiche
Exekution wurde sodann an dein zweiten Verurteilten (siehe
unser Bild) und zuletzt an den: dritten vollzogen.
Maßregeln zur Verhütung der Malaria in der
römischen Campagna.
(Siehe daL Bild auf Seile 638.)
)Han war bisher der Meinung, daß die Malaria, diese
gefürchtete Tropenkrankheit, die aber auch in milderer
Form in allen Ländern Südeuropas und, als „kaltes Fieber",
auch an den Küsten Deutschlands vorkommt, der schlechten
Luft sumpfiger Landstrecken, wo Pflanzenreste faulen, ihren
Ursprung verdanke. Daher auch der allgemein angenommene
italienische Name Malaria (schlechte Luft). Die neuen Malaria-
forschungen und Versuche der Gelehrten aber, an denen sich
in hervorragender Weise die Italiener Grassi, Vignami und
Celli und von deutscher Seite Geheimrat Professor R. Koch
beteiligten, haben gezeigt, daß das Malariagift kein Miasma,
sondern ein mikroskopischer Parasit ist, der in: Bluts des
Menschen wie gewisser Stechmücken schmarotzt, und daß er
durch den Stich der Anophelesstechmücke (Moskitos) aus den
Menschen übertragen wird, der ihm als Zwischenwirt dient.
Der Boden kommt als Infektionsquelle erst in zweiter Reihe
in Betracht, insofern er nämlich für das Leben und die Ent-
wickelung der Stechmücken besonders geeignet ist. In Teichen
und Tümpeln werden die Eier der Stechmücken meist abgelegt,
und ihre Larven und Nymphen „rachen dort ihre Verwandlung
durch. Daher sind sumpfige Gewässer zur Charakteristik einer
Malariagegend wesentlich. Die Stechmücken entfernen sich
erfahrungsgemäß nicht weit von dem Orte, wo sie geboren
sind, dies erklärt die ziemlich enge Begrenzung der Malaria-
herde. Auch das Auftreten der Malaria in den verschiedenen
Jahreszeiten steht mit den: Leben der Anophelesstechmücken
in direkter Beziehung. Die neue Generation dieser Insekten
fängt in Italien in der zweiten Hälfte des Jun: wieder an
zu stechen, und gegen Ende Juni kommen alljährlich die
ersten Malariaerkrankungen vor, deren Zahl dann in: Jul:
und August beständig wächst; mit dem Eintreten der kühlen
Jahreszeit und den: Absterben der Stechmücken hören auch
die Malariaerkrankungen auf. Diese Beobachtungen sind
jetzt durch Versuche als unzweifelhaft richtig festgestellt
worden. Man hat sowohl in Sizilien, als in Mittel- und
Unteritalien durch geeignete Maßregeln einen völligen Ma-
lariaschutz für Menschen erzielt, indem man sie vor den: Stich
der Stechmücken schützte Diese Maßregeln zur Verhütung
der Malaria (siehe das Bild auf S. 638) wurden von Or. Grassi
bei Pästuin, von Vv. Celli bei Ostia, einem der berüchtigtsten
Malariaorte der römischen Campagna, mit vollen: Erfolge
durchgeführt. Or. Koch nahm von deutscher Seite, eine ärzt-
liche Kommission von englischer daran teil. Als Versuchs-
objekte dienten die Beamten der Bahnstrecke, die jene Malaria-
gegend durchschneidet. An den Bahnwärterhäusern wurden
alle Oefsnungen an Thüren, Fenstern, Kaminausgängeu u. s. w.
durch feine Drahtnetze geschlossen, die Beamten durfte:: nie
vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang ihre Woh-
nungen verlassen, über tags aber nur, angethan nut den
auch von den Aerzten und Krankenpflegern benutzten Schutz-
vorrichtungen, bestehend aus einen: Gesicht und Hals ver-
hüllenden Schleier und Lederhandschuhen. Alle, die sich den
ärztlichen Maßregeln fügten, blieben malariafrei, im auf-
fälligen Gegensatz zu den Landarbeitern, welche die Aerzte
verlachten und fortfuhren, sich in ihren elenden Strohhütten
den Stichen der Moskitos auszusetzen. Von diesen kau: eine
große Anzahl mit schweren Malariaanfüllen in ärztliche Be-
handlung. Ist die Ansteckung einmal erfolgt, so helfen nur
starke Gaben von Chinin, dagegen vermag man sich jetzt
durch strenge Beobachtung der Verhütungsmaßregeln sicher
vor einer Malariaerkrankung zu schützen. Gelingt es schließ-
lich noch, die Entwickelung der Stechmücken in: TVasser durch
geeignete Zerstörungsmaßregeln unmöglich zu machen, woran
inan jetzt eifrig arbeitet, so würde es in der Zukunft möglich
sein, die Malaria, diese gefährlichste Plage aller warmen
Länder, ganz oder doch fast ganz auszurotten.
Die Waldfünde. -E»
Eine slowenische Dorfgeschichte aus Untersteiermark. Von Julius Sgrutfchek.
1.
raußen aus der bergigen Waldgegend lag der
funkelnde Sonnenschein des Hochsommers,
drinnen in dein Extrazimmer des Markt-
wirtshauses hingegen wogte und wallte der
dicke Rauch kurzer Pfeifen und minderwertiger Zigarren.
Das Wirtshaus lag au: Rande des kleinen Marktes,
dort, wo bereits die Felder und Wiesen begannen.
Sein Extrazimmer hatte nur ein einziges Fenster; und
näherte inan das Gesicht den verstaubten Scheiben, so
sah man gleich hinter den Wiesen die bewaldeten Berg-
hänge aus dein schmalen Thale steil emporsteigen.
Und gerade von den großen Wälderi: voll schlanker
Fichten, welche die Hänge und Höhen bedeckten, wurde in
dem Extrazimmer jetzt eifrig und lärmend gesprochen.
Um den langen Tisch saß eine Anzahl Männer.
Gläser voll Bier standen auf den: Tische herum, da-
zwischen Teller, auf denen noch Speisereste lagen. Jin
Hintergründe, gerade dein einzigen Fenster gegenüber,
lag auf einen: breiten Holzgestell ein Bierfaß, zu den:
jeder nach Belieben hintrat, um sich sein leergewordenes
GlaS nach Wunsch wieder zu füllen.
Die Männer, die um den Tisch herumsaßen, hatten
ihre dunklen Sonntagsgewänder an, trotzdem heute kein
Sonn- oder Feiertag war. Manche hatten den breiten,
schwarzen Hut auf den: Kopfe, manche hatten ihn schon
weit in den Nacken zurückgeschoben. Allen aber sah
nun: den Eifer des Gespräches, die Erregung einer
wichtigen Besprechung oder eines mühsam zurückgehalte-
nen Streites an.
An der kurzen Fensterseite des Tisches saß eine
schmächtige, mittelgroße Gestalt nut bereits ergrauten:
Haar. Geschäftsbücher und Schriften lagen ausgebreitet
vor ihr. Gegenüber, an der anderen kurzen Tischseite,
saß ein stämmiger Mann nut tiefdunkler Gesichtsfarbe
und einem ganzen Wald schwarzer Haare. Er hatte
eben seine sehnige, breite Faust schwer auf den Tisch
gelegt und sah nun nut blitzenden Augen von einen: der
Männer zum anderen.
„Ja ja, schaut nur da zum Fenster hinaus und schaut
ihn euch an, unseren Wald," fuhr jetzt der Schwarze
mit starker, eindringlicher Stimme fort. „Der Wald
da drüben gehört uns zwanzig Männern, die wir hier
sitzen, aber der einundzwanzigste, der ihn bewirtschaftet
und der ein Förster sein muß, wenn die Wirtschaft gut
gehen soll, der muß ein ehrlicher Mensch sein, dem wir
vertrauen können. Ein Mensch muß es sein, den: nur in
die Seele und in den Mund und in den Sack hinein-
sehen können, ohne daß er dabei rot zu werden braucht.
Das sag' ich, der Micha, der Schmied, und für einen
anderen stimm' ich nicht!" Er schlug mit der Faust
zornig auf den Tisch. „Nein, für einen anderen stimm'
ich nicht!" schrie er noch einmal voll Heftigkeit. „Und
keiner von euch wird es thun, keiner, der's ehrlich
meint!"
Ein leises, beistimmendes Murmeln und Kopfnicken
ging zwischen den anderen hin und her. Nur der Grau-
haarige an der Spitze der Tafel saß ruhig da.
„Ich glaube," sagte er jetzt mit langsamer, fast
zögernder Stimme, wie noch überlegend, „daß sich nie-
mand von uns allen einen anderen Förster wünschen
wird, als einen redlichen und tüchtigen. Aber Micha,
cs ist nicht schön von dir, daß du den Erdschollen, die
wir vor einigen Stunden in das Grab des verstorbenen
Försters geworfen haben, jetzt Reden nachmirfst, die
schwer auf seinen Sargdeckel drücken müssen, Ja, sehr-
schwer, Micha, denn du wirfst auf seinen Sargdeckel einen
bösen Verdacht!"
Der Sprecher machte eine Pause, und keiner von der
Tischrunde unterbrach sie. Alle fühlten es, daß den:
Toten, eben erst jetzt Begrabenen, übel nachgeredet wor-
den sei, und daß dies nicht sein solle, da zu seinen Leb-
zeiten kein Mensch je über ihn übles gedacht oder ge-
sprochen hatte.
Der Schmied sah eine Weile finster vor sich, den
Kopf vornübergebeugt. „Mein lieber Joscha," sagte er
dann in ruhigem Tone, „ob ich recht habe oder unrecht,
das wird sich wohl weisen! Dich klag' ich ja nicht an —"
„Ich dank' Ihnen, Brigitta. Gehen S' jetzt 's
Hansel suchen. Er soll doch da sein."
Als Nieder seiner Frau mitteilte, was bei ihrer
Schwester erwartet wurde, leuchteten die Augen der
Kranken auf: „Gott sei Dank! Wenn'ä nur gut ab-
geht, dann wird auch alles andere besser. Das macht'
i' noch erleben, daß i' weiß, ob 's ein Büberl is, wie
bei uns."
„Aber Klara, du wirst 's noch umlaufen sehn."
Auf diesen zaghaft ausgesprochenen Trost antwortete
Klara bloß mit einem schwachen, ungläubigen Lächeln.
Nach einer Weile klang im Hausflur das Glöckchen
des Ministranten, das die Ankunft des Geistlichen an-
kündigte. Im Nebenzimmer wurde das gedämpfte
Murmeln vieler Menschenstimmen hörbar. Tie Nach-
barn waren gekommen, um für die Sterbende zu beten.
Gleich darauf öffnete sich die Thür, und Pfarrer
Althaus trat ein, im weißen Chorhemd, das verhüllte
Allerheiligste in den Händen. Das glatt rasierte Gesicht
des Priesters drückte die tiefste, kaum beherrschte Be-
wegung aus.
Rieder hatte sich erhoben. In der Haltung ver-
zweifelten Schmerzes stand er einen Augenblick vor
seinen: geistlichen Freunde, dann deutete er mit einer
mutlosen Bewegung der Rechten auf das Krankenbett
und schlich hinaus in das Wohnzimmer.
Das war gedrängt voll Menschen. Mitten unter
ihnen sah Rieder die Magd mit Hansel, der neugierig
und ängstlich zugleich um sich blickte. Er faßte sein
Kind an der Hand, sank mit ihm, das Gesicht nach der
Thür zum Krankenzimmer gewendet, in die Kniee, und
siel mit zitternder Stimme m das laute Gebet ein, das
die ernst blickenden Menschen um ihn her jetzt zu sprechen
begannen.
Endlich öffnete sich die Thür wieder. Unter Vor-
antritt des kleinen Ministranten erschien der Priester in
ihr und schritt durch die Gasse, die die Andächtigen zu-
rückweichend frei machten.
Vor Nieder blieb er einen Augenblick stehen und
fragte: „Sie kommen natürlich zu mir, sobald ... so-
bald Sie können?"
Der Uhrmacher nickte, und der Pfarrer schritt weiter.
Hinter ihm verließen die Nachbarn und die Nach-
barinnen auf den Fußspitzen das Genrach, nachdem sie
Nieder schweigend die Hand gedrückt hatten. Als die
Thür sich Himer dem letzten geschlossen hatte, hörte der
Vater die Helle Stimme seines Sohnes an sein Ohr
schlagen.
„Das is aber schön g'wesen! Darf i' jetzt wieder
fort?"
Er schüttelte den Kopf. „Nein, Hansel! Du sollst
bei der Mutter bleiben, hat der Herr Pfarrer g'sagt."
Als dis beiden das Schlafzimmer wieder betraten,
sah ihnen die Kranke mit verklärten Augen entgegen.
„Ich bin dir so dankbar, Tobias! Mir :s jetzt
so gut und leicht... g'rad zum G'sundwerdenis mir.-
Komm, mein Hanserl, gieb deiner Mutter ein Bussel —
so — noch eins — so — so — so! — Und jetzt kannst
wieder spielen gehn. Mutter möcht' schlafen."
„Aber nit z' weit fort vom Haus!" raunte der Uhr-
macher dein Kleinen zu. „Vielleicht . . . vielleicht
kommt der Herr Pfarrer wieder."
Der Knabe nickte mit den: blonden Köpfchen und
sprang davon. Nieder setzte sich auf das Bett Klaras,
nahm ihre hagere, feuchte Rechte zwischen seine beiden
Hände und sah ihr liebevoll in das blasse Gesicht.
„Mein lieber Tobias!" flüsterte die Kranke. Nach
einer kleinen Weile fügte sie hinzu: „Schlafen möcht' ich."
Der Mann blieb bei ihr sitzen, hielt ihre Hand rind
sah zu, wie sie einschlief.
(goriscizuug folgt )
Die Ereignisse in Mnsien.
xv.
(Siehe doS Bild auf Seite 63L uud 635.)
Chinaexpedition scheint sich nun allmählich ihrem Ende
zuzuneigen, worüber allseitige Befriedigung geäußert wird.
Kaiser Wilhelm II. hat das deutsche Pnnzcrgeschwader zurück-
berufen und zugleich befohlen, die Auflösung ' des deutschen
Armeeoberkommandos in Ostasien, sowie die Verringerung des
ostasiatischcn Expeditionseorps vorzubereiten. Das vermin-
derte Expeditionscorps wird daun, wie angenommen werden
darf, 3000 bis 4000 Mann (abgesehen von der Schutzwache in
Peking und den Etappenskreitkrästen auf dem Wege" von der
chinesischen Hauptstadt bis zum Meere) nicht übersteigen, denen
vor allen: die Ausgabe obliegen wird, die Ausführung des
zwischen den diplomatischen Vertretern der Mächte und den
chinesischen Bevollmächtigten getroffenen Abmachungen zu
überwachen. Das; in diesen Abmachungen auf die Aus-
lieferung und Hinrichtung der Hauptschuldigen, vor allem
des Prinzen Tuan, verzichtet wurde, war ein durch die Lage
der Dinge gebotener, aber bei seiner Rechtzeitigkeit auch ein
kluger Schritt der deutschen Politik. Von diesen Rebellen-
häuptlingen soll sich Tungfusiang mit wenig Truppen in
der Provinz Kansu befinde,:, Tuan aber mit einigen Be-
gleitern nach der Mongolei geflüchtet sein. Zahlreiche andere
Führer der Boxer und chinesische Beamte, die mit diesen
Das Buch für Alle.
637
gemeinschaftliche Sache machten, sielen dagegen in die Gewalt
der verbündeten Truppen. Sie wurden den chinesischen Be-
hörden zur Bestrafung ausgeliefert, die sie gewöhnlich kurzer
Hand hinrichten ließen. Eine solche Hinrichtung von Boxer-
anführern stellt unser Bild auf S. 634 und 630 dar. Ihr
Schauplatz war Jtschau, eine bedeutende befestigte Stadt, gegen
120 Kilometer südwestlich von Peking, die den Mittelpunkt
einer gefährlichen Boxsrbewegung gebildet hatte, welche durch
französische Streitkräfte unterdrückt wurde. Ein kleiner Man-
darin voi: Siling und zwei andere Boxerführer waren ge-
fangen genommen und den: Mandarinen von Jtschau ausge-
liesert worden, der sie zum Tode verurteilte. Der Hinrichtung
wohnte unter einem Zelte der Mandarin von Jtschau bei,
angethan mit der für solche Fälle herkömmlichen roten Robe
und umgeben von seinen Beamten und einer Abteilung der
chinesischen Garde, welche Piken in Form großer langer
Schwerter trugen. Außerdem war die französische Garnison
bei den: traurigen Akts zugegen. Die drei Verurteilten
wurden nut entblößten: Oberkörper und nut auf den: Rücken
zusammengebundenen Händen vorgesührt. Auch der Henker
und seine Gehilfen hatten ihre Oberkleider abgelegt. Den:
Mandarine,: von Siling verschaffte seinTitel dieVergünstigung,
als erster geköpft zu werden. Er mußte etwa 15 Meter vor
den: Zelte seines Kollegen von Jtschau auf dem Rasen nieder-
knieen. Einer der Gehilfen des Henkers packte seinen Zopf,
um den ein dem Delinquenten durch den Mund gezogener
Riemen geschlungen wurde, und zog daran, während der
andere Gehilfe die gefesselten Arme des Opfers ergriff und
ihm den einen Fuß ins Kreuz stemmte. Dann hob der Henker
sein breites, krummes Schwert, und in: nächsten Augenblick
rollte der abgeschlagene Kopf auf den Boden. Die gleiche
Exekution wurde sodann an dein zweiten Verurteilten (siehe
unser Bild) und zuletzt an den: dritten vollzogen.
Maßregeln zur Verhütung der Malaria in der
römischen Campagna.
(Siehe daL Bild auf Seile 638.)
)Han war bisher der Meinung, daß die Malaria, diese
gefürchtete Tropenkrankheit, die aber auch in milderer
Form in allen Ländern Südeuropas und, als „kaltes Fieber",
auch an den Küsten Deutschlands vorkommt, der schlechten
Luft sumpfiger Landstrecken, wo Pflanzenreste faulen, ihren
Ursprung verdanke. Daher auch der allgemein angenommene
italienische Name Malaria (schlechte Luft). Die neuen Malaria-
forschungen und Versuche der Gelehrten aber, an denen sich
in hervorragender Weise die Italiener Grassi, Vignami und
Celli und von deutscher Seite Geheimrat Professor R. Koch
beteiligten, haben gezeigt, daß das Malariagift kein Miasma,
sondern ein mikroskopischer Parasit ist, der in: Bluts des
Menschen wie gewisser Stechmücken schmarotzt, und daß er
durch den Stich der Anophelesstechmücke (Moskitos) aus den
Menschen übertragen wird, der ihm als Zwischenwirt dient.
Der Boden kommt als Infektionsquelle erst in zweiter Reihe
in Betracht, insofern er nämlich für das Leben und die Ent-
wickelung der Stechmücken besonders geeignet ist. In Teichen
und Tümpeln werden die Eier der Stechmücken meist abgelegt,
und ihre Larven und Nymphen „rachen dort ihre Verwandlung
durch. Daher sind sumpfige Gewässer zur Charakteristik einer
Malariagegend wesentlich. Die Stechmücken entfernen sich
erfahrungsgemäß nicht weit von dem Orte, wo sie geboren
sind, dies erklärt die ziemlich enge Begrenzung der Malaria-
herde. Auch das Auftreten der Malaria in den verschiedenen
Jahreszeiten steht mit den: Leben der Anophelesstechmücken
in direkter Beziehung. Die neue Generation dieser Insekten
fängt in Italien in der zweiten Hälfte des Jun: wieder an
zu stechen, und gegen Ende Juni kommen alljährlich die
ersten Malariaerkrankungen vor, deren Zahl dann in: Jul:
und August beständig wächst; mit dem Eintreten der kühlen
Jahreszeit und den: Absterben der Stechmücken hören auch
die Malariaerkrankungen auf. Diese Beobachtungen sind
jetzt durch Versuche als unzweifelhaft richtig festgestellt
worden. Man hat sowohl in Sizilien, als in Mittel- und
Unteritalien durch geeignete Maßregeln einen völligen Ma-
lariaschutz für Menschen erzielt, indem man sie vor den: Stich
der Stechmücken schützte Diese Maßregeln zur Verhütung
der Malaria (siehe das Bild auf S. 638) wurden von Or. Grassi
bei Pästuin, von Vv. Celli bei Ostia, einem der berüchtigtsten
Malariaorte der römischen Campagna, mit vollen: Erfolge
durchgeführt. Or. Koch nahm von deutscher Seite, eine ärzt-
liche Kommission von englischer daran teil. Als Versuchs-
objekte dienten die Beamten der Bahnstrecke, die jene Malaria-
gegend durchschneidet. An den Bahnwärterhäusern wurden
alle Oefsnungen an Thüren, Fenstern, Kaminausgängeu u. s. w.
durch feine Drahtnetze geschlossen, die Beamten durfte:: nie
vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang ihre Woh-
nungen verlassen, über tags aber nur, angethan nut den
auch von den Aerzten und Krankenpflegern benutzten Schutz-
vorrichtungen, bestehend aus einen: Gesicht und Hals ver-
hüllenden Schleier und Lederhandschuhen. Alle, die sich den
ärztlichen Maßregeln fügten, blieben malariafrei, im auf-
fälligen Gegensatz zu den Landarbeitern, welche die Aerzte
verlachten und fortfuhren, sich in ihren elenden Strohhütten
den Stichen der Moskitos auszusetzen. Von diesen kau: eine
große Anzahl mit schweren Malariaanfüllen in ärztliche Be-
handlung. Ist die Ansteckung einmal erfolgt, so helfen nur
starke Gaben von Chinin, dagegen vermag man sich jetzt
durch strenge Beobachtung der Verhütungsmaßregeln sicher
vor einer Malariaerkrankung zu schützen. Gelingt es schließ-
lich noch, die Entwickelung der Stechmücken in: TVasser durch
geeignete Zerstörungsmaßregeln unmöglich zu machen, woran
inan jetzt eifrig arbeitet, so würde es in der Zukunft möglich
sein, die Malaria, diese gefährlichste Plage aller warmen
Länder, ganz oder doch fast ganz auszurotten.
Die Waldfünde. -E»
Eine slowenische Dorfgeschichte aus Untersteiermark. Von Julius Sgrutfchek.
1.
raußen aus der bergigen Waldgegend lag der
funkelnde Sonnenschein des Hochsommers,
drinnen in dein Extrazimmer des Markt-
wirtshauses hingegen wogte und wallte der
dicke Rauch kurzer Pfeifen und minderwertiger Zigarren.
Das Wirtshaus lag au: Rande des kleinen Marktes,
dort, wo bereits die Felder und Wiesen begannen.
Sein Extrazimmer hatte nur ein einziges Fenster; und
näherte inan das Gesicht den verstaubten Scheiben, so
sah man gleich hinter den Wiesen die bewaldeten Berg-
hänge aus dein schmalen Thale steil emporsteigen.
Und gerade von den großen Wälderi: voll schlanker
Fichten, welche die Hänge und Höhen bedeckten, wurde in
dem Extrazimmer jetzt eifrig und lärmend gesprochen.
Um den langen Tisch saß eine Anzahl Männer.
Gläser voll Bier standen auf den: Tische herum, da-
zwischen Teller, auf denen noch Speisereste lagen. Jin
Hintergründe, gerade dein einzigen Fenster gegenüber,
lag auf einen: breiten Holzgestell ein Bierfaß, zu den:
jeder nach Belieben hintrat, um sich sein leergewordenes
GlaS nach Wunsch wieder zu füllen.
Die Männer, die um den Tisch herumsaßen, hatten
ihre dunklen Sonntagsgewänder an, trotzdem heute kein
Sonn- oder Feiertag war. Manche hatten den breiten,
schwarzen Hut auf den: Kopfe, manche hatten ihn schon
weit in den Nacken zurückgeschoben. Allen aber sah
nun: den Eifer des Gespräches, die Erregung einer
wichtigen Besprechung oder eines mühsam zurückgehalte-
nen Streites an.
An der kurzen Fensterseite des Tisches saß eine
schmächtige, mittelgroße Gestalt nut bereits ergrauten:
Haar. Geschäftsbücher und Schriften lagen ausgebreitet
vor ihr. Gegenüber, an der anderen kurzen Tischseite,
saß ein stämmiger Mann nut tiefdunkler Gesichtsfarbe
und einem ganzen Wald schwarzer Haare. Er hatte
eben seine sehnige, breite Faust schwer auf den Tisch
gelegt und sah nun nut blitzenden Augen von einen: der
Männer zum anderen.
„Ja ja, schaut nur da zum Fenster hinaus und schaut
ihn euch an, unseren Wald," fuhr jetzt der Schwarze
mit starker, eindringlicher Stimme fort. „Der Wald
da drüben gehört uns zwanzig Männern, die wir hier
sitzen, aber der einundzwanzigste, der ihn bewirtschaftet
und der ein Förster sein muß, wenn die Wirtschaft gut
gehen soll, der muß ein ehrlicher Mensch sein, dem wir
vertrauen können. Ein Mensch muß es sein, den: nur in
die Seele und in den Mund und in den Sack hinein-
sehen können, ohne daß er dabei rot zu werden braucht.
Das sag' ich, der Micha, der Schmied, und für einen
anderen stimm' ich nicht!" Er schlug mit der Faust
zornig auf den Tisch. „Nein, für einen anderen stimm'
ich nicht!" schrie er noch einmal voll Heftigkeit. „Und
keiner von euch wird es thun, keiner, der's ehrlich
meint!"
Ein leises, beistimmendes Murmeln und Kopfnicken
ging zwischen den anderen hin und her. Nur der Grau-
haarige an der Spitze der Tafel saß ruhig da.
„Ich glaube," sagte er jetzt mit langsamer, fast
zögernder Stimme, wie noch überlegend, „daß sich nie-
mand von uns allen einen anderen Förster wünschen
wird, als einen redlichen und tüchtigen. Aber Micha,
cs ist nicht schön von dir, daß du den Erdschollen, die
wir vor einigen Stunden in das Grab des verstorbenen
Försters geworfen haben, jetzt Reden nachmirfst, die
schwer auf seinen Sargdeckel drücken müssen, Ja, sehr-
schwer, Micha, denn du wirfst auf seinen Sargdeckel einen
bösen Verdacht!"
Der Sprecher machte eine Pause, und keiner von der
Tischrunde unterbrach sie. Alle fühlten es, daß den:
Toten, eben erst jetzt Begrabenen, übel nachgeredet wor-
den sei, und daß dies nicht sein solle, da zu seinen Leb-
zeiten kein Mensch je über ihn übles gedacht oder ge-
sprochen hatte.
Der Schmied sah eine Weile finster vor sich, den
Kopf vornübergebeugt. „Mein lieber Joscha," sagte er
dann in ruhigem Tone, „ob ich recht habe oder unrecht,
das wird sich wohl weisen! Dich klag' ich ja nicht an —"