Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
640

Das Buch für Alle.

Heft 24.


Serbischer Grutebrauch. Originnlzeichnung von F. Schlegel. «S. 644)

Tag für Tag in den Wirtshäusern saß und spielte und
kaum so viel arbeitete, um an diesen Orten seine Schulden
zu bezahlen? Oder lag dies in seinem ganzen Wesen?
Und trotzdem er aus seinem Widerwillen gegen ihn
uicht den geringsten Hehl machte, drängte sich dieser
Mensch seit einein halben Jahre doch fort und fort an
ihn. Er war ihm jetzt geradezu verhaßt geworden.
Zweimal hatte der Schmied um die Hand feiner Toch-
ter angehalten. Ein so armes Geschöpf ehelichen zu wollen,
das war ja doch fo erbärmlich, daß es auf der Hand
lag, der Schmied wollte nur das Geld und die Wirt-
schaft. Und Joscha hatte ihm dies gesagt und ihm die
Thür gewiesen. Aber auch das hatte die Zudringlich-
keit des Menschen nicht vermindert.
Und heute — wie war er dazu gekommen, sich plötzlich
um den Gemeindewald zu kümmern? Warum hatte er
leise und vorsichtig verdächtigt? Warum hatte er bei
allen seinen Reden so eigen zu ihm herübergelacht?
Was wußte er? Und warum wollte er gerade heute
noch kommen? Warum wollte er Hölzer schneiden lassen?
Er baute ja nicht!
Was wollte er also? Was wußte er?
Und die Aufregung des alten Mannes steigerte sich
von Minute zu Minute und schnürte ihm fast die Kehle
zu, als Micha endlich eintrat.
Wortlos empfing er ihn. Der Schmied that, als ob
er es nicht merke.
„Hast lange auf mich warten müssen, Joscha!"
sagte er leichthin. „Aber mach dir nichts daraus!
Wegen der Holzschneiderei bin ich ja ohnedies nicht ge-
kommen, sondern wegen was ganz anderem! — He,
weißt es vielleicht schon, Joscha?" Und er lachte dabei
leise voll Vertraulichkeit und Freundschaft. Dann trat
er an den Tisch und begann in der inneren Tasche seines
rußigen Arbeitskittels nach etwas zu suchen.
Endlich brachte er ein schmales, abgegriffenes Büchlein
zum Vorjchein. „Mußt das da doch gut kennen, Joscha,
was?" Und dabei schwenkte er das Büchlein vor den
Augen des Bürgermeisters hin und her.
„Woher soll ich's kennen?" erwiderte der Alte mit
heiserer Stimme, während sich sein Blick an das Büchlein
klammerte.
„Ich komm' extra wegen dem Büchlein da zu dir,"
fuhr der Schmied fort, während er sich dem Bürger-
meister gegenüber an dem anderen Tischende auf einen
Stuhl niederließ. „Das Büchel da hab' ich beim alten
Vinko gefunden."

Er machte eine Pause und hob es etwas in die
Höhe.
„So?" sagte der Bürgermeister. Dann schwieg er
wieder.
Der Schmied lächelte. Er legte das Büchlein auf
den Tisch und schlug es auf. Dichte Zifferreihen standen
darin, zum Teil mit Bleistift, zum Teil mit Tinte, ein-
getragen. Die Augen Joschas starrten über den Tisch
hinüber und suchten vergeblich die Zifferreihen zu er-
fassen. .
„Siehst du," sagte der Schmied mit demselben ge-
mütlichen und freundschaftlichen Tone wie früher, „wie
ich den Vinko tot neben seinem Tisch gefunden hab',
da hab' ich nicht gleich Lärm geschlagen. Es war ja
nicht mehr nötig, denn er war ja schon tot. Ich hab'
nur alles zuerst recht gründlich angesehen, was auf dem
Tisch vor ihm gelegen hat. Von der Schnapsflasche und
dem Schnapsglas hab' ich ja schon erzählt: nun, die
hab' ich stehen lassen: aber da hat auch noch ein Buch
gelegen und ein Bleistift — dieses Buch und dieser
Bleistift. — Das Buch war aufgeschlagen, und da hab'
ich natürlich hineingeschaut. — Nun und siehst du,
Joscha, da hat mich das so gewundert, was ich in dem
Buch gesehen hab', daß ich's auf die Seite geräumt hab',
bevor ich die Leute zu dem Toten gerufen und zum
Gericht und zu dir geschickt hab'."
Micha schwieg, sah seinen: Gegenüber ins Gesicht
und ließ die Seiten des Büchleins spielend wiederholt
durch seine Finger gleiten.
Man hörte eine Weile in dem Zimmer nur das
Schwirren dieser Blätter und das Atmen der beide,:
Menschen. Dabei fiel das Licht der kleinen Hängelampe
über dein Tische auf das totenfahle Gesicht des Bürger-
meisters, in den: es sonderbar zuckte und arbeitete, wäh-
rend in seinen Augen ein unsteter, flackernder Schein
aufstieg.
Der Schmied weidete sich eine Weile an diesen: An-
blick, dann aber hob er sich langsam ein wenig von
seinen: Sessel und beugte sich über den Tisch zum Bürger-
meister hinüber.
„Nicht wahr, mein lieber Joscha," sagte er dabei nut
leiser Stimme, „du bist jetzt zehn Jahre bei uns Bürger-
meister und so an die zwanzig Jahre Obmann unserer
Waldgenossenschaft. Und wer dich kennt, sagt, du bist
ein Ehrenmann durch und durch. Aber, mein lieber
Joscha," die Stimme des Schmiedes sank zum Geflüster
herab, „seit drei Tagen weiß ich's aus diesem Buche

des verstorbenen Vinko: das bist du nicht, sondern ein
ganz durchtriebener Betrüger!"
„Micha!"
Nur dieses eine Wort klang jetzt wie ein Schrei
durch das Zimmer, und dabei sank die Gestalt des
Bürgermeisters kraftlos an die Wand zurück.
„Ja, ich weiß alles," fuhr der Schmied unbeirrt
fort. „Siehst du, da drin steht es, wie du uns mit
deinen: alten Vinko in: Gemeindewalde betrogen hast.
Jeden Schlag, den du gekauft hast, hat er uns kleiner-
angegeben, und nur haben's geglaubt! Waren 10,000
Kubikfuß Holz drinnen, so sagte er nur 8000 an, und
waren 20,000 drin, so waren's für uns nur 16,000!
Und das ging so fort Jahr für Jahr, volle zwanzig Jahre
lang!"
Der Schmied stand jetzt mit dein Büchlein in der
Hand neben dem Bürgermeister und wies auf die Ziffern.
Und dann schlug er das Buch an einer anderen Stelle auf.
„Siehst du," fuhr er fort, „dein seliger Vinko hat
alles aufgeschrieben, wie der gewissenhafteste Kaufmann.
Und wie er eben den ganzen Schwindel für alle die
vergangenen Jahre zusammengerechnet hatte, passierte
ihm das dumme Pech, vom Schlage gerührt zu werden!
Aber etwas Gutes hatte es doch. Man kann jetzt aus
den: Büchel so schön und leicht Herauslesei:, daß du uns
um etwas mehr als 12,000 Gulden betrogen hast. —
Ein ganz hübsches Geld — was? Nm:, und davon
hat dein braver Vinko geradeaus 2432 Gulden
60 Kreuzer bekommen. Na, das sind rund zwanzig
Prozent — weißt, so viel rechnen kann ich auch. Und
wahrscheinlich aus Wut darüber, daß er dich nicht noch
mehr angezapft hat, hat ihn: beim Rechnen der Schlag
gerührt!"
Der Schmied lachte laut über seinen Witz.
„Heuer seid ihr aber schon gar unverschämt ge-
wesen!" fuhr er nach einer kurzen Pause fort, da er
die gewünschte Stelle in den: Buche gefunden^ hatte.
„Der edle Vinko hat angegeben, daß auf deinem Schlage
15,321 Kubikfuß Holz liegen, und diese hast du uns
auch auf den Kreuzer bezahlt. Aber es sind in Wirklich-
keit 18,554 Kubikfuß. Und so hast du uns diesmal
um nicht weniger als 3233 Kubikfuß betrogen!"
Der Schmied steckte jetzt das Büchlein in seine
Brusttasche, nickte dem Bürgermeister freundlich zu und
setzte sich wieder auf seinen alten Platz. Von dort aus
betrachtete er, die Hände gekreuzt auf den: Tische liegend
und den Körper vorgebeugt, schweigend den Bürgermeister.
 
Annotationen