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saftige Gras abzurupfen. Königseck ließ die Stute
ruhig gewähren.
Er hatte ja Zeit; erst als eine weißgekleidete
Frauengestalt in der Entfernung sichtbar ward, be-
schleunigte er „Märchens" Gangart durch einen leichten
Zügelruck. Es war ihm ein Genuß, Sibyll" ahnungs-
los, langsam auf sich zukommen zu lassen.
„Andere Frauen Hüpfen, trippeln oder watscheln
beim Gehen, bei ihr federt jeder Tritt. Sicher und
elegant zugleich," dachte er.
Ein leichtes Not überflog ihr Gesicht, als sie so
unerwartet vor ihm stand.
„Ich dachte, ich dürfte es wagen, etwas früher als
die anderen zu kommen," sagte er leichthin. „Ich
null auch ganz bescheiden hier im Park die übrigen
Gäste erwarten."
Sie neigte bejahend den Kopf. „Ich bin, wie Sie
sehen, bereits angezogen und im Begriff, auf einen
Augenblick in mein Asyl zu gehen."
„Als heilige Elisabeth, ein Körbchen am Arm mit
Rosen oder Brot?" neckte er, auf den kleinen Henkel-
korb deutend, der in der That an ihrem Arme hing.
„Mit beiden:; Brot oder vielmehr Kuchen für die
lieben Kleinen und darüber Rosen für die Schwestern."
„Wie praktisch Sie sind. Auf diesen Ausweg,
unten das verbotene Brot, und obenauf die erlaubtet:
Rosen zu legen, kam die heilige Elisabeth nicht. Sonst
hätte sie ihr Gewissen den: gestrengen Gatten gegen-
über mit keiner Lüge zu beschweren brauchen."
„Diese Legende ist nur immer von sehr zweifelhafter
Moral erschienen," bemerkte Sibylle: „Meinem Gefühl
nach war die fromme Lüge einfach eine Feigheit. Mir
würde es richtiger erschienen sein, sie hätte den: rohen
Gatten getrotzt und die Strafe für ihren Ungehorsam
dann gelassen hingenommen."
(Fortsetzung folgt.)
Arllberjllnge ans Algerien.
(Siehe das Bild auf Seite 651.)
^slgerien, die wichtigste französische Kolonie, in der es kürz-
lich wieder einmal einen allerdings nur auf ein kleines
Gebiet beschränkt gebliebenen Aufstand zu unterdrücken gab,
ist das alte Nunüdien. Zur Römerzeit befand sich dieses
Gebiet in: blühendsten Zustande und besaß viele volkreiche
Städte, allein diese ganze Kultur wurde durch die verheeren-
den Einfälle erst der Vandalen und dann der Araber zer-
stört. Die zum Islam übergetretenen Berber wurden die
herrschenden Einwohner, bis Frankreich sich des Gebietes be-
mächtigte. Die eingeborenen Bewohner von Algerien ge-
hören, von kleineren Stämmen abgesehen, entweder den Ber-
bern oder den Arabern an. Tie letzteren, zu denen auch die
Beduinen, diese Zeltbewohner des freien Landes, zählen, sind
ungemein intelligent, dazu abgehärtet und bedürfnislos; be-
zeichnend ist ferner ihr Schachersinn und ihre kausmännische
Gewandtheit, die sich auch im Verkehr mit Fremden geltend
zu machen weiß. Was das Aeußere des Arabers angelst, so
hat er eine ziemlich Helle Haut, schwarze Haupt- und Bart-
haare, dünne Lippen, gebogene Nase, schwarze, lebhafte Augen,
eine etwas zurücktretende Stirn, ein ovales Gesicht und hohe,
schlanke, aber kräftige Gestalt. Charakteristisch ist der Araber-
junge aus Algerien auf unserem Bilde S. 651 nach einer
an Ort und Stelle aufgenommenen Photographie. Man sieht
es ihm an, daß es ihm nicht an angeborener Intelligenz
mangelt. Der Unterricht, den diese braunen Burschen in den
arabischen Schulen erhalten, beschränkt sich auf das Lesen und
Auswendiglernen von Teilen des Korans und auf das
Schreiben. Die französische Kolonialregierung hat aber
Volksschulen (mindestens eine in jeder Gemeinde) eingerichtet,
deren Zöglinge einen mehr den europäischen Anforderungen
entsprechenden Unterricht bekommen.
Das Llchtettsteinfestspiel in Honau.
/<2in Kleinod Schwabens ist das auf hohem Felsen ober-
halb des freundlichen Oertchens Honau im Echatzthal,
unfern der betriebsamen Stadt Reutlingen, emporragende
Schloß Lichtenstein. Etwa eine Stunde davon entfernt liegt die
Nebelhöhle, in welcher der schwäbische Dichter, einer alten
Sage folgend, denvertriebenen württembergischen Herzog Ulrich
des Nachts verschwiegene Zuflucht finden läßt. An: Pfingst-
montage findet alljährlich in und bei der erleuchteten Nebel-
höhle ein großes Frühlingsvolkssest statt, und dann herrscht
auch in Honau, bis wohin die Bahn endlose Scharen von
Besuchern bringt, heiteres, reges Leben. In diesen: Jahre
war der Fremdenzufluß noch stärker, denn die Festlichkeiten
erhielten ein besonderes Gepräge durch die ersten Auffüh-
rungen des neuen Lichtensteinfestspiels (siehe unser Bild auf
S. 654 und 655) in dem zu diesem Zweck eigens erbauten
Festspielhause in Honau. Auf unserem Bilde ist links dieser
Bau in dem vom Lichtenstein überragten Orte zu sehen
(Skizze 1), während uns die Skizze 5 unmittelbar vor die
Spielhalle während der Aufführungen versetzt, die fortan in
jedem Jahre wiederholt werden sollen. Das Aeußere des
Festspielhauses (nach Plänen des Bauinspektors Kempter in
Reutlingen) ist einer mittelalterlichen Burg nachgebildet.
Der Burghof bildet den Zuschauerraum mit 1500 Sitz-
plätzen (siehe Skizze 3). Das dargestellte Festspiel: „Lichten-
stein. Ein deutsches Spiel in neun Vorgängen nach HausfS
romantischer Sage" hat zum Verfasser den Direktor der
Halleschen Theater- und Nedekunslschule, Rudolf Lorenz. Der
Das Buch f ü r All e.
Verfasser des Spieles ist auch als Regisseur und als Dar-
steller des Herzogs Ulrich thälig; Vorsitzender der Festspiel-
kommission ist Fabrikant Ernst Laiblin in Pfullingen. Die
Darsteller, rund 150 Personen, sind Dilettanten aus den
Orten der Umgegend, alle begeisterte Freunde der Sache, die
wochenlang Zeit und Mühe nicht scheuten, sich zu den von
Lorenz geleiteten Proben einzufinden. Mit gespannter Auf-
merksamkeit folgt jedesmal das aus Städtern und Land-
bevölkerung bunt gemischte Publikum den stimmungsreichen
und farbenprächtigen Bühnenbildern, deren Wirkung die von
Osterlohs komponierte und den: Geiste der Dichtung gut an-
gepaßte Musik erhöht. Die Schauplätze der neun „Vorgänge"
oder Akte sind nacheinander: das Lager bei Blaubeuren, ein
Zimmer im Bessererschen Hause in Ulm, der Garten an der
Donau und dann der Nathaussaal ii: Ulm, die Bauernstube
im Hause des Pfeifers in Hardt und endlich die Umgebung
und das Innere des Lichtensteinschlößchens und die Nebel-
höhle (Skizze 4). Unsere Skizze 2 zeigt uns im Ulmer Rat-
haussaal mit den übrigen Häuptern des Schwäbischen Bundes
Georg v. Frondsberg, wie er dem Junker Georg v. Sturm-
feder sein Schwert abverlangt, weil er den: Bunde keine
Späherdienste leisten will. Die Skizze 6 veranschaulicht den
Zweikampf zwischen Sturmfeder und dem von diesen: nicht ge-
kannten Herzog Ulrich vor der Zugbrücke der Burg Lichten-
stein. Hier erwartet der Junker seinen vermeintlichen Neben-
buhler und dringt nut den Worten: „Zieh, Verräter, und wehr
dich deines Lebens!" auf ihn ein, bis der hinzukommende
Pfeifer dem Kampfe ein Ende macht.
Die Enthüllung -es Bismarck-Denkmals in Berlin.
(Siehe das Bild auf Seile 659.)
^)lün 16. Juni wurde in Gegenwart des Kaiserpaares in
<-4- Berlin das Nationaldenkmal für den Fürsten Bismarck,
das seinen Platz vor der Rampe der Westfront des Reichs-
Hest 25.
tagsgebäudes auf dem Königsplatze gefunden hat, feierlich
enthüllt (siehe unser Bild auf S. 659). Dichte Menschen-
massen hielten die Zugänge des Platzes besetzt; Krieger-
vereine mit wallenden Fahnen standen zu deill Seiten des
Podiums vor dem Denkmal. Dort hatten sich auch Fürst
Herbert Bismarck, der Reichskanzler Graf Bülow, die Minister
und Staatssekretäre, die Mitglieder des Bundesrats und des
Reichstags, Fürst Hohenlohe, die Herren des Zentralkomitees,
die Mitglieder des preußischen Herren- und Abgeordneten-
hauses, der Schöpfer des Denkmals, Professor Reinhold Begas,
mit den übrigen, an der Herstellung beteiligt gewesenen
Künstlern eingefunden. Ein tausendstimmiger Chor von
Schulkindern eröffnete die Feier mit dem Gesang: „Die
Himmel rühmen des Ewigen Ehre", worauf der Vor-
sitzende des Hauptkomitees, v. Levetzow, vortrat und das
Denkmal dem Reichskanzler im Namen des Komitees übergab.
Nun folgte eine markige Rede des Grafen Bülow, welche die
Gestalt des ersten Reichskanzlers in seinem geschichtlichen
Wirken und seiner unvergänglichen Bedeutung vor dem
geistigen Auge der Zuhörer wieder aufleben ließ. Nach dem
Gesänge der Nationalhymne erbat sich v. Levetzow die Er-
laubnis zur Enthüllung. Auf einen Wink des Kaisers senkte
sich die Hülle langsam, so daß das eherne Standbild allen
Blicken sichtbar wurde. Gewaltig steht die Riesengestalt des
„eisernen Kanzlers" da; auf dem hohen Sockel ist nur das
eine Wort: „Bismarck" zu lesen. Längere Zeit betrachtete
der Kaiser das Denkmal, dann trat er festen Schrittes vor,
um einen von ihm gewidmeten Lorbeerkranz mit goldenen
Spitzen an den Denkmalsstufen niederzulegen. Alsdann be-
glückwünschte der Monarch den Professor Begas und reichte
dem Reichskanzler die Hand. Längere Zeit unterhielt er sich
mit dem Fürsten Herbert Bismarck, den er auch bei dem
Rundgange um das Denkmal nicht von seiner Seite ließ.
Nach dem Vorbeimarsch der Ehrencompagnie brachte der
Reichstagspräsident Graf Ballestrem das Hoch auf den Kaiser
aus, mit dem die Feier schloß.
Büßende Liebe.
Novelle von Gustav Johannes Krauß.
(Fortsetzung und Schluß.)
lara lag mit geschlossenen Augen, kaum
merkbar atmend, viele Stunden lang.
Draußen sank die Sonne und rotes,
flackerndes Licht siel durch die Fenster
herein. Rieder saß noch immer bei
seiner schlummernden kranken Frau,
hielt ihre dünnen Finger zwischen seinen Händen und
sah ihr regungslos in das blasse Antlitz.
Das rote Abendlicht entschwand und die Dämmerung
legte sich wie ein grauer, immer dichter und dunkler
werdender Nebel vor die Augen des regungslosen Mannes.
Im Nebenzimmer hörte er Hansels hohe, jetzt ein wenig
müde Stimme das Abendgebet hersagen. Gleich darauf
brachte die alte Brigitta den Knaben, den fie bereits
entkleidet hatte, auf dem Arme herein, zeigte ihm seine
schlafende Mutter und brachte ihn dann zu Bett, wo sie
ihn fürsorglich zudeckte.
„Wollen S' nit was essen, Herr?" fragte sie dann
flüsternd.
Als Rieder den Kopf schüttelte, ging fie hinaus und
kam gleich darauf mit der brennenden Nachtlampe herein,
neben die fie die geweihte Wachskerze stellte, die an-
gezündet werden sollte, wenn es so weit war. Als die
Lampe auf der Kommode so untergebracht war, daß ihr
Licht die Kranke nicht belästigte, sah die Alte sich nach
einem Stuhle um. Sie wollte offenbar ihrem Herrn
wachen Helsen.
Nieder bemerkte ihr Vorhaben. „Gehn S' nur
schlafen," flüsterte er. „Sie müssen ja müd' fein. Legen
S' Ihnen hakt nebenan aufs Kanapee, damit S' bei
der Hand find, wenn —"
Er vollendete nicht. Die Magd trat an das Kopf-
ende des Bettes, faltete die braunen, runzligen Hände
und betete mit lautlos sich regenden Lippen. Dann
schlich fie auf den Zehen hinaus.
Wieder saß Nieder allein mit feiner sterbenden Frau,
von der er keinen Blick wandte. Stundenlang. Die
Uhr im Nebenzimmer schlug zehn, elf, zwölf, dann
schlug fie dreimal hintereinander einmal ; die Schlafende
regte sich nicht, und der große, breitschulterige Mann
saß unbeweglich. Nur um feinen Mund zuckte es manch-
mal so wunderlich.
Mit dem Schlage der zweiten Morgenstunde öffnete
Klara die Augen. Nieder fuhr empor. Er hatte sofort
an dem Blick seines Weibes erkannt, daß es nun da war.
„Das Kind!" flüsterte die Sterbende.
Der Mann stürzte an das kleine Bett und riß den
Knaben empor. Der sah mit verwirrte::, blinzelnden
Augen erstaunt um sich, dann sank das Gesichtchen nut
den rotgeschlafenen Wangen müde gegen die linke
Schulter.
„I' bin so schläfrig!" jaminerte das Kind weinerlich.
„Sag der Malter . . . sag ihr gute Nacht!"
(Nachdruck vervotm.)
flüsterte ihm der Vater aufgeregt zu. „Und ein Bussel
gieb ihr!"
Er trug Hansel an das Bett der Mutter, die ihn
zärtlich auf den Mund, auf beide Wangen und auf die
schlaftrunkenen Augen küßte.
„Gott . . . segne dich . . . mein Kind . . ." sagte fie
mit erloschener Stimme; „. . . und halt' seine Händ'
über dich."
Sie versuchte, dem Kinde ihre Hand auf das Haupt
zu legen; die sank aber kraftlos herab. Rieder bemerkte
es. Behutsam hob er ihre Hand und hielt fie über den
Scheitel des Knaben, daß die Finger auf dem weichen,
krausen Blondhaar ruhten.
Klara atmete zweimal tief, dann flüsterte sie: „Leg
'n hin! — Er is so schläfrig ... die Kerzen. . .!"
Mechanisch trug der Mann den Kleinen in fein
Bettchen zurück und wollte dann zur Kommode gehen,
auf der die Sterbekerze lag. Da ließ ihn ein leiser,
aber unsäglich schauerlicher, röchelnder Laut, den die
Sterbende von sich gab, zusammenzucken und an das
Bett zurückstürzen.
„Tob . . . Tobias! Bet mit mir!"
Er sank in die Kniee und sprach ihr mit zitternder
Stimme das Vaterunser und das Avemaria laut vor.
Als das Amen verklungen war, fetzte sich Klara im
Bette auf, streckte ihrem Manne die Arme entgegen und
sagte mit lauter, seltsam Heller Stimme: „Mein Tobias . .
behüt' dich Gott . . . und die Anna . . . jetzt küß mich!
Schnell!!"
Ueber diese jäh aufloderndc, an die Tage der Ge-
sundheit unheimlich gemahnende Kraft im tiefsten er-
schrocken, umfing sie Rieder und küßte sie mit scheuer
Zärtlichkeit.
Da streckte sie sich so seltsam; ihr Oberkörper hing
schwer, so schwer in den Armen des Gatten.
Tobias Rieder ließ den entseelten Leib seines Weibes
sanft in die Kissen zurückgleiten und richtete sich mit
einem dumpfen, aus der tiefsten Brust herauskommendcn
Stöhnen empor.
Da erklang lautes, schluchzendes Beten hinter ihm.
Er sah sich um und sah die alte Magd mit gefalteten
Händen dastehen. Sie war hereingekommen, ohne daß
er's gemerkt hatte, hatte die geweihte Kerze angezündet
und das Fenster geöffnet, damit die befreite Seele himmel-
wärts fliegen könne.
Als Brigitta ihr Vaterunser zu Ende gesprochen
hatte, nickte sie wehmütig nut dem grauen Kopfe. „Da
liegt s' jetzt, die gute, liebe, brave Frau! — Und bei ihrer
Schwester wickeln st vielleicht grad jetzt was Klein's in
die ersten Windeln."
„Richtig!" antwortete Nieder leise. „Denen muß
ich's ja sagen lassen. Gehn S' halt hin, Brigitta. Und
fragen Sogleich, wie's der jungen Frau geht."
saftige Gras abzurupfen. Königseck ließ die Stute
ruhig gewähren.
Er hatte ja Zeit; erst als eine weißgekleidete
Frauengestalt in der Entfernung sichtbar ward, be-
schleunigte er „Märchens" Gangart durch einen leichten
Zügelruck. Es war ihm ein Genuß, Sibyll" ahnungs-
los, langsam auf sich zukommen zu lassen.
„Andere Frauen Hüpfen, trippeln oder watscheln
beim Gehen, bei ihr federt jeder Tritt. Sicher und
elegant zugleich," dachte er.
Ein leichtes Not überflog ihr Gesicht, als sie so
unerwartet vor ihm stand.
„Ich dachte, ich dürfte es wagen, etwas früher als
die anderen zu kommen," sagte er leichthin. „Ich
null auch ganz bescheiden hier im Park die übrigen
Gäste erwarten."
Sie neigte bejahend den Kopf. „Ich bin, wie Sie
sehen, bereits angezogen und im Begriff, auf einen
Augenblick in mein Asyl zu gehen."
„Als heilige Elisabeth, ein Körbchen am Arm mit
Rosen oder Brot?" neckte er, auf den kleinen Henkel-
korb deutend, der in der That an ihrem Arme hing.
„Mit beiden:; Brot oder vielmehr Kuchen für die
lieben Kleinen und darüber Rosen für die Schwestern."
„Wie praktisch Sie sind. Auf diesen Ausweg,
unten das verbotene Brot, und obenauf die erlaubtet:
Rosen zu legen, kam die heilige Elisabeth nicht. Sonst
hätte sie ihr Gewissen den: gestrengen Gatten gegen-
über mit keiner Lüge zu beschweren brauchen."
„Diese Legende ist nur immer von sehr zweifelhafter
Moral erschienen," bemerkte Sibylle: „Meinem Gefühl
nach war die fromme Lüge einfach eine Feigheit. Mir
würde es richtiger erschienen sein, sie hätte den: rohen
Gatten getrotzt und die Strafe für ihren Ungehorsam
dann gelassen hingenommen."
(Fortsetzung folgt.)
Arllberjllnge ans Algerien.
(Siehe das Bild auf Seite 651.)
^slgerien, die wichtigste französische Kolonie, in der es kürz-
lich wieder einmal einen allerdings nur auf ein kleines
Gebiet beschränkt gebliebenen Aufstand zu unterdrücken gab,
ist das alte Nunüdien. Zur Römerzeit befand sich dieses
Gebiet in: blühendsten Zustande und besaß viele volkreiche
Städte, allein diese ganze Kultur wurde durch die verheeren-
den Einfälle erst der Vandalen und dann der Araber zer-
stört. Die zum Islam übergetretenen Berber wurden die
herrschenden Einwohner, bis Frankreich sich des Gebietes be-
mächtigte. Die eingeborenen Bewohner von Algerien ge-
hören, von kleineren Stämmen abgesehen, entweder den Ber-
bern oder den Arabern an. Tie letzteren, zu denen auch die
Beduinen, diese Zeltbewohner des freien Landes, zählen, sind
ungemein intelligent, dazu abgehärtet und bedürfnislos; be-
zeichnend ist ferner ihr Schachersinn und ihre kausmännische
Gewandtheit, die sich auch im Verkehr mit Fremden geltend
zu machen weiß. Was das Aeußere des Arabers angelst, so
hat er eine ziemlich Helle Haut, schwarze Haupt- und Bart-
haare, dünne Lippen, gebogene Nase, schwarze, lebhafte Augen,
eine etwas zurücktretende Stirn, ein ovales Gesicht und hohe,
schlanke, aber kräftige Gestalt. Charakteristisch ist der Araber-
junge aus Algerien auf unserem Bilde S. 651 nach einer
an Ort und Stelle aufgenommenen Photographie. Man sieht
es ihm an, daß es ihm nicht an angeborener Intelligenz
mangelt. Der Unterricht, den diese braunen Burschen in den
arabischen Schulen erhalten, beschränkt sich auf das Lesen und
Auswendiglernen von Teilen des Korans und auf das
Schreiben. Die französische Kolonialregierung hat aber
Volksschulen (mindestens eine in jeder Gemeinde) eingerichtet,
deren Zöglinge einen mehr den europäischen Anforderungen
entsprechenden Unterricht bekommen.
Das Llchtettsteinfestspiel in Honau.
/<2in Kleinod Schwabens ist das auf hohem Felsen ober-
halb des freundlichen Oertchens Honau im Echatzthal,
unfern der betriebsamen Stadt Reutlingen, emporragende
Schloß Lichtenstein. Etwa eine Stunde davon entfernt liegt die
Nebelhöhle, in welcher der schwäbische Dichter, einer alten
Sage folgend, denvertriebenen württembergischen Herzog Ulrich
des Nachts verschwiegene Zuflucht finden läßt. An: Pfingst-
montage findet alljährlich in und bei der erleuchteten Nebel-
höhle ein großes Frühlingsvolkssest statt, und dann herrscht
auch in Honau, bis wohin die Bahn endlose Scharen von
Besuchern bringt, heiteres, reges Leben. In diesen: Jahre
war der Fremdenzufluß noch stärker, denn die Festlichkeiten
erhielten ein besonderes Gepräge durch die ersten Auffüh-
rungen des neuen Lichtensteinfestspiels (siehe unser Bild auf
S. 654 und 655) in dem zu diesem Zweck eigens erbauten
Festspielhause in Honau. Auf unserem Bilde ist links dieser
Bau in dem vom Lichtenstein überragten Orte zu sehen
(Skizze 1), während uns die Skizze 5 unmittelbar vor die
Spielhalle während der Aufführungen versetzt, die fortan in
jedem Jahre wiederholt werden sollen. Das Aeußere des
Festspielhauses (nach Plänen des Bauinspektors Kempter in
Reutlingen) ist einer mittelalterlichen Burg nachgebildet.
Der Burghof bildet den Zuschauerraum mit 1500 Sitz-
plätzen (siehe Skizze 3). Das dargestellte Festspiel: „Lichten-
stein. Ein deutsches Spiel in neun Vorgängen nach HausfS
romantischer Sage" hat zum Verfasser den Direktor der
Halleschen Theater- und Nedekunslschule, Rudolf Lorenz. Der
Das Buch f ü r All e.
Verfasser des Spieles ist auch als Regisseur und als Dar-
steller des Herzogs Ulrich thälig; Vorsitzender der Festspiel-
kommission ist Fabrikant Ernst Laiblin in Pfullingen. Die
Darsteller, rund 150 Personen, sind Dilettanten aus den
Orten der Umgegend, alle begeisterte Freunde der Sache, die
wochenlang Zeit und Mühe nicht scheuten, sich zu den von
Lorenz geleiteten Proben einzufinden. Mit gespannter Auf-
merksamkeit folgt jedesmal das aus Städtern und Land-
bevölkerung bunt gemischte Publikum den stimmungsreichen
und farbenprächtigen Bühnenbildern, deren Wirkung die von
Osterlohs komponierte und den: Geiste der Dichtung gut an-
gepaßte Musik erhöht. Die Schauplätze der neun „Vorgänge"
oder Akte sind nacheinander: das Lager bei Blaubeuren, ein
Zimmer im Bessererschen Hause in Ulm, der Garten an der
Donau und dann der Nathaussaal ii: Ulm, die Bauernstube
im Hause des Pfeifers in Hardt und endlich die Umgebung
und das Innere des Lichtensteinschlößchens und die Nebel-
höhle (Skizze 4). Unsere Skizze 2 zeigt uns im Ulmer Rat-
haussaal mit den übrigen Häuptern des Schwäbischen Bundes
Georg v. Frondsberg, wie er dem Junker Georg v. Sturm-
feder sein Schwert abverlangt, weil er den: Bunde keine
Späherdienste leisten will. Die Skizze 6 veranschaulicht den
Zweikampf zwischen Sturmfeder und dem von diesen: nicht ge-
kannten Herzog Ulrich vor der Zugbrücke der Burg Lichten-
stein. Hier erwartet der Junker seinen vermeintlichen Neben-
buhler und dringt nut den Worten: „Zieh, Verräter, und wehr
dich deines Lebens!" auf ihn ein, bis der hinzukommende
Pfeifer dem Kampfe ein Ende macht.
Die Enthüllung -es Bismarck-Denkmals in Berlin.
(Siehe das Bild auf Seile 659.)
^)lün 16. Juni wurde in Gegenwart des Kaiserpaares in
<-4- Berlin das Nationaldenkmal für den Fürsten Bismarck,
das seinen Platz vor der Rampe der Westfront des Reichs-
Hest 25.
tagsgebäudes auf dem Königsplatze gefunden hat, feierlich
enthüllt (siehe unser Bild auf S. 659). Dichte Menschen-
massen hielten die Zugänge des Platzes besetzt; Krieger-
vereine mit wallenden Fahnen standen zu deill Seiten des
Podiums vor dem Denkmal. Dort hatten sich auch Fürst
Herbert Bismarck, der Reichskanzler Graf Bülow, die Minister
und Staatssekretäre, die Mitglieder des Bundesrats und des
Reichstags, Fürst Hohenlohe, die Herren des Zentralkomitees,
die Mitglieder des preußischen Herren- und Abgeordneten-
hauses, der Schöpfer des Denkmals, Professor Reinhold Begas,
mit den übrigen, an der Herstellung beteiligt gewesenen
Künstlern eingefunden. Ein tausendstimmiger Chor von
Schulkindern eröffnete die Feier mit dem Gesang: „Die
Himmel rühmen des Ewigen Ehre", worauf der Vor-
sitzende des Hauptkomitees, v. Levetzow, vortrat und das
Denkmal dem Reichskanzler im Namen des Komitees übergab.
Nun folgte eine markige Rede des Grafen Bülow, welche die
Gestalt des ersten Reichskanzlers in seinem geschichtlichen
Wirken und seiner unvergänglichen Bedeutung vor dem
geistigen Auge der Zuhörer wieder aufleben ließ. Nach dem
Gesänge der Nationalhymne erbat sich v. Levetzow die Er-
laubnis zur Enthüllung. Auf einen Wink des Kaisers senkte
sich die Hülle langsam, so daß das eherne Standbild allen
Blicken sichtbar wurde. Gewaltig steht die Riesengestalt des
„eisernen Kanzlers" da; auf dem hohen Sockel ist nur das
eine Wort: „Bismarck" zu lesen. Längere Zeit betrachtete
der Kaiser das Denkmal, dann trat er festen Schrittes vor,
um einen von ihm gewidmeten Lorbeerkranz mit goldenen
Spitzen an den Denkmalsstufen niederzulegen. Alsdann be-
glückwünschte der Monarch den Professor Begas und reichte
dem Reichskanzler die Hand. Längere Zeit unterhielt er sich
mit dem Fürsten Herbert Bismarck, den er auch bei dem
Rundgange um das Denkmal nicht von seiner Seite ließ.
Nach dem Vorbeimarsch der Ehrencompagnie brachte der
Reichstagspräsident Graf Ballestrem das Hoch auf den Kaiser
aus, mit dem die Feier schloß.
Büßende Liebe.
Novelle von Gustav Johannes Krauß.
(Fortsetzung und Schluß.)
lara lag mit geschlossenen Augen, kaum
merkbar atmend, viele Stunden lang.
Draußen sank die Sonne und rotes,
flackerndes Licht siel durch die Fenster
herein. Rieder saß noch immer bei
seiner schlummernden kranken Frau,
hielt ihre dünnen Finger zwischen seinen Händen und
sah ihr regungslos in das blasse Antlitz.
Das rote Abendlicht entschwand und die Dämmerung
legte sich wie ein grauer, immer dichter und dunkler
werdender Nebel vor die Augen des regungslosen Mannes.
Im Nebenzimmer hörte er Hansels hohe, jetzt ein wenig
müde Stimme das Abendgebet hersagen. Gleich darauf
brachte die alte Brigitta den Knaben, den fie bereits
entkleidet hatte, auf dem Arme herein, zeigte ihm seine
schlafende Mutter und brachte ihn dann zu Bett, wo sie
ihn fürsorglich zudeckte.
„Wollen S' nit was essen, Herr?" fragte sie dann
flüsternd.
Als Rieder den Kopf schüttelte, ging fie hinaus und
kam gleich darauf mit der brennenden Nachtlampe herein,
neben die fie die geweihte Wachskerze stellte, die an-
gezündet werden sollte, wenn es so weit war. Als die
Lampe auf der Kommode so untergebracht war, daß ihr
Licht die Kranke nicht belästigte, sah die Alte sich nach
einem Stuhle um. Sie wollte offenbar ihrem Herrn
wachen Helsen.
Nieder bemerkte ihr Vorhaben. „Gehn S' nur
schlafen," flüsterte er. „Sie müssen ja müd' fein. Legen
S' Ihnen hakt nebenan aufs Kanapee, damit S' bei
der Hand find, wenn —"
Er vollendete nicht. Die Magd trat an das Kopf-
ende des Bettes, faltete die braunen, runzligen Hände
und betete mit lautlos sich regenden Lippen. Dann
schlich fie auf den Zehen hinaus.
Wieder saß Nieder allein mit feiner sterbenden Frau,
von der er keinen Blick wandte. Stundenlang. Die
Uhr im Nebenzimmer schlug zehn, elf, zwölf, dann
schlug fie dreimal hintereinander einmal ; die Schlafende
regte sich nicht, und der große, breitschulterige Mann
saß unbeweglich. Nur um feinen Mund zuckte es manch-
mal so wunderlich.
Mit dem Schlage der zweiten Morgenstunde öffnete
Klara die Augen. Nieder fuhr empor. Er hatte sofort
an dem Blick seines Weibes erkannt, daß es nun da war.
„Das Kind!" flüsterte die Sterbende.
Der Mann stürzte an das kleine Bett und riß den
Knaben empor. Der sah mit verwirrte::, blinzelnden
Augen erstaunt um sich, dann sank das Gesichtchen nut
den rotgeschlafenen Wangen müde gegen die linke
Schulter.
„I' bin so schläfrig!" jaminerte das Kind weinerlich.
„Sag der Malter . . . sag ihr gute Nacht!"
(Nachdruck vervotm.)
flüsterte ihm der Vater aufgeregt zu. „Und ein Bussel
gieb ihr!"
Er trug Hansel an das Bett der Mutter, die ihn
zärtlich auf den Mund, auf beide Wangen und auf die
schlaftrunkenen Augen küßte.
„Gott . . . segne dich . . . mein Kind . . ." sagte fie
mit erloschener Stimme; „. . . und halt' seine Händ'
über dich."
Sie versuchte, dem Kinde ihre Hand auf das Haupt
zu legen; die sank aber kraftlos herab. Rieder bemerkte
es. Behutsam hob er ihre Hand und hielt fie über den
Scheitel des Knaben, daß die Finger auf dem weichen,
krausen Blondhaar ruhten.
Klara atmete zweimal tief, dann flüsterte sie: „Leg
'n hin! — Er is so schläfrig ... die Kerzen. . .!"
Mechanisch trug der Mann den Kleinen in fein
Bettchen zurück und wollte dann zur Kommode gehen,
auf der die Sterbekerze lag. Da ließ ihn ein leiser,
aber unsäglich schauerlicher, röchelnder Laut, den die
Sterbende von sich gab, zusammenzucken und an das
Bett zurückstürzen.
„Tob . . . Tobias! Bet mit mir!"
Er sank in die Kniee und sprach ihr mit zitternder
Stimme das Vaterunser und das Avemaria laut vor.
Als das Amen verklungen war, fetzte sich Klara im
Bette auf, streckte ihrem Manne die Arme entgegen und
sagte mit lauter, seltsam Heller Stimme: „Mein Tobias . .
behüt' dich Gott . . . und die Anna . . . jetzt küß mich!
Schnell!!"
Ueber diese jäh aufloderndc, an die Tage der Ge-
sundheit unheimlich gemahnende Kraft im tiefsten er-
schrocken, umfing sie Rieder und küßte sie mit scheuer
Zärtlichkeit.
Da streckte sie sich so seltsam; ihr Oberkörper hing
schwer, so schwer in den Armen des Gatten.
Tobias Rieder ließ den entseelten Leib seines Weibes
sanft in die Kissen zurückgleiten und richtete sich mit
einem dumpfen, aus der tiefsten Brust herauskommendcn
Stöhnen empor.
Da erklang lautes, schluchzendes Beten hinter ihm.
Er sah sich um und sah die alte Magd mit gefalteten
Händen dastehen. Sie war hereingekommen, ohne daß
er's gemerkt hatte, hatte die geweihte Kerze angezündet
und das Fenster geöffnet, damit die befreite Seele himmel-
wärts fliegen könne.
Als Brigitta ihr Vaterunser zu Ende gesprochen
hatte, nickte sie wehmütig nut dem grauen Kopfe. „Da
liegt s' jetzt, die gute, liebe, brave Frau! — Und bei ihrer
Schwester wickeln st vielleicht grad jetzt was Klein's in
die ersten Windeln."
„Richtig!" antwortete Nieder leise. „Denen muß
ich's ja sagen lassen. Gehn S' halt hin, Brigitta. Und
fragen Sogleich, wie's der jungen Frau geht."