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Das Buch für Alle.
Heft 25.
ihrer Heimat vor einem Parterre rauchender und
trinkender Studenten, lärmender Arbeiter.
„Mademoiselle!" rief der Prinz, an die Veranda-
brüstung eilend, um ihr nachzufehen. „Mademoiselle
Magda!"
Sie ivar schon in: Haus drin. Als er durch sein
Zimmer auf die Treppe kam, kehrte sie rasch wieder
um und lief auf die Straße. Sie konnte ihm jetzt nicht
begegnen. Sie schämte sich plötzlich.
In den folgenden Tagen war der kleine Spanier
wie verwandelt. Sein Ausdruck war düster — in seinen
dunklen Augen fun-
kelte es. Er kau:
nicht mehr zu Magda
in deren Zimmer.
Er fror lieber. Mit
niemandem sprach er
ein Wort.
Magda machte
sich Vorwürfe. Sie
hätte ihre Enttäu-
schung, oder viel-
mehr ihr Entsetzen
nicht so brüsk ver-
raten dürfen.
Er hatte bisher
vielleicht gar nichts
so schlimmes darin
gefunden, daß seine
Mutter an solchen
Stätten, die der
leichtgeschürzten
Muse dienten, öffent-
lich fürs Geld sang.
Sie hatte dem Aerm-
sten nun wohl all
feine Naivetät ge-
raubt.
Eines Morgens
las die Engländerin
in ihrem breiten, un-
möglichen Franzö-
sisch eine Lokalnotiz
aus der „Tribüne",
dem Stadtklatsch-
blatt von Genf, vor.
Die lautete:
„Von der Di-
rektion der Sing-
spielhalle ,Kasino' in
der Carouge geht
uns folgendes Avis
zu dem bereits an-
gekündigten dreima-
ligen Auftreten der
Madame Estrella di
Granada zu: Die
durch ihre Schönheit
und Grazie und
ihren phänomenalen
Stimmzauber welt-
berühmt gewordene
spanische National-
fängerin Estrella, die
den Beinamen,Nach-
tigall von Granada'
führt, sieht auf eine
Vergangenheit zu-
rück, in der auch die
hohe Politik eine be-
deutsame Nolle
spielte. Aus Volks-
kreisen hervorgegan-
gen, fesselte sie durch
ihre blendende Er-
scheinung und die
Kunst ihres Ge-
sanges den Herzog
Sagosta-Gonzago
derart, daß dieser
seine Verlobung mit
der dem spanischen
Hof nahestehenden
Prinzessin Ines von Altkastilien aufhob und trotz des
Einspruchs von Thron und Klerus die schöne Estrella
sich zur Linken antrauen ließ. Nach dem Tod des
Herzogs durch Kabalen in den Kreisen der Cortes mit-
samt ihrem Söhnchen verbannt, unternahm die,Nachti-
gall von Granada' Kunstfahrten durch die Alte und
die Neue Welt, die ihren Ruhm aufs neue begründeten.
Ihr hiesiges Auftreten wird voraussichtlich ihr letztes
sein, denn soeben gelangt die Nachricht hierher, daß die
Königin-Regentin von Spanien durch einen Gnadenakt
den schwierigen und verwickelten Prozeß aus der Welt
schaffen wird, der nun schon seit Jahren von der um
die Erbfolge gebrachten Witwe des Herzogs von Sagosta-
Gonzago gegen mehrere Grandenfamilien Madrids in
der Schwebe gehalten wurde. Die ,Nachtigall von
Das Koröanshängen in Thüringen. Originalzeichnung von N. Mahn. (S. 664)
Magda schlich gedrückt umher. Man hän-
selte sie, zog sie auf, weil sie fo stolz auf
ihren Verkehr mit Seiner Durchlaucht gewesen war.
Wie sie sich Hettore gegenüber benehmen sollte, wußte
sie gar nicht. Er ignorierte sie übrigens — er igno-
riene sie alle.
Und dann kam seine Mutter an.
Magda erschrak zuerst, als sie sie bei Tische sah.
Sämtliche Pensionäre trugen spöttische Mienen zur Schau.
Nur Hettore strahlte. In seinem Glück, neben seiner
schönen, berühmten Mutter zu sitzen, schien er Magda
ihr seltsames Betragen von neulich sogar verzeihen zu
wollen, denn er nickte ihr lächelnd zu.
Magda musterte wieder und wieder die etwas
fettige, saloppe, verblühte, stark brünette Frau, die
Granada' dürfte sich nach ihrem Abschied von der Kunst
wieder auf El Dorado, dem Sagosta-Gonzagoschen
Stammschlosse in Südgranada, niederlassen."
Die Engländerin sand es „LbollinZ", daß man hier
Thür an Thür mit dem Sohn einer solchen Person
leben mußte, die in öffentlichen Lokalen sang. Auch für
die übrigen Mitglieder der Pension war aller Zauber,
der sie mit dem Worte Prinz berührt hatte, nun mit
einem Schlage dahin. Die beiden Berliner thaten so,
als hätten sie eine derartige Enthüllung schon längst er-
wartet,
mit ihrem theatralischen Aufputz, ihren vielen Gesten,
ihrer gemachten Eleganz einen nichts weniger als herzog-
lichen Eindruck machte.
Wenn Sagosta-Gonzago noch lebte — ob er an
der Seite dieser gealterten „Nachtigall von Granada"
auf seinem Dorado glücklich gewesen wäre?
Als Hettores Mutter plötzlich aufsprang und sich in
ihrer lärmenden Art umständlich verabschiedete, weil sie
zur Probe mußte, tauschten die Pensionäre Blicke mit-
einander — Blicke, die der Thüringerin deutlich genug
deren Urteil über die „spanische Herzogin" verkündeten.
Aber auch Het-
tore mußte wohl
endlich begriffen
haben.
Seine Mritter
hatte nicht dulden
wollen, daß er den
Nachtisch versäumte;
dennoch hatte er sie
bis zur Thür be-
gleitet und sich von
ihr verabschiedet, in-
dem er ihr innig
und ehrfurchtsvoll
oie Hände küßte. Die
Pensionäre aber hat-
ten kaum genickt,
als sie ihnen adieu
sagte.
Stumm und be-
engt saß er nun da.
Die Berliner
führten das Wort,
trotzdem Madame
Faure, die während
der ganzen Mahlzeit
wie aus Kohlen ge-
sessen, dem Gespräch
eine andere Wen-
dung zu geben be-
müht nmr.
„Wo gehen Sie
heute abend hin?"
fragte der eine den
anderen über den
Tisch weg.
„Ich?O, ich habe
noch keinen Plan.
Im Theater ist
Spmphoniekonzert."
„Das ist lang-
weilig. Kommen Sie
mit ins Kasino."
„Was giebt's
da? Drahtseilkünst-
lerinnen, Bauch-
redner und Clowns
— es ist ja stets
derselbe Zauber."
„O, haben Sie
die neue Ankündi-
gung noch nicht ge-
sehen? Das herr-
liche Plakat, das
an allen Ecken an-
geschlagen ist?"
„Nein, ich war
noch nicht in der
Stadt heute."
„Eine bildschöne
Spanierin. Estrella
, Sie müssen mit-
oder ähnlich. .-
kommen. — Schließt sich sonst noch
WG. jemand an? — Vielleicht Mademoi-
feile Hoffmann?"
Magda war dunkelrot geworden,
8 antwortete aber nicht.
I „Ich denke, Sie interessieren sich
L so lebhaft für Spanien, Mademoiselle
l Hoffmann?"
I Eine kurze Pause. Magda hörte,
W. wie es in der Brust Hettores, der
neben ihr saß, arbeitete. Er fuhr jetzt
plötzlich empor. Eine Wildheit blitzte
' aus seinen dunklen Augen, wie sie
- „och keiner an ihm bemerkt hatte.
Er fuchtelte mit den Fäusten durch
die Luft — er öffnete den Mund — aber nur ein
halblauter, stöhnender Ausruf drang aus seiner Kehle.
Hastig wandte er sich ab, denn er wollte niemand
seine thränengesüllten Augen sehen lassen, und in der
nächsten Sekunde war er draußen.
Madame Faure reichte ihrem Nachbar Ne Mllch-
reisspeise. Ihre Hand zitterte dabei.
„Monsieur Köpp", wandte sie sich an den Studenten,
so ruhig es ihr möglich war, „ist es Ihnen bekannt,
daß die Dame, die im Kasino von Carouge auftreten
Das Buch für Alle.
Heft 25.
ihrer Heimat vor einem Parterre rauchender und
trinkender Studenten, lärmender Arbeiter.
„Mademoiselle!" rief der Prinz, an die Veranda-
brüstung eilend, um ihr nachzufehen. „Mademoiselle
Magda!"
Sie ivar schon in: Haus drin. Als er durch sein
Zimmer auf die Treppe kam, kehrte sie rasch wieder
um und lief auf die Straße. Sie konnte ihm jetzt nicht
begegnen. Sie schämte sich plötzlich.
In den folgenden Tagen war der kleine Spanier
wie verwandelt. Sein Ausdruck war düster — in seinen
dunklen Augen fun-
kelte es. Er kau:
nicht mehr zu Magda
in deren Zimmer.
Er fror lieber. Mit
niemandem sprach er
ein Wort.
Magda machte
sich Vorwürfe. Sie
hätte ihre Enttäu-
schung, oder viel-
mehr ihr Entsetzen
nicht so brüsk ver-
raten dürfen.
Er hatte bisher
vielleicht gar nichts
so schlimmes darin
gefunden, daß seine
Mutter an solchen
Stätten, die der
leichtgeschürzten
Muse dienten, öffent-
lich fürs Geld sang.
Sie hatte dem Aerm-
sten nun wohl all
feine Naivetät ge-
raubt.
Eines Morgens
las die Engländerin
in ihrem breiten, un-
möglichen Franzö-
sisch eine Lokalnotiz
aus der „Tribüne",
dem Stadtklatsch-
blatt von Genf, vor.
Die lautete:
„Von der Di-
rektion der Sing-
spielhalle ,Kasino' in
der Carouge geht
uns folgendes Avis
zu dem bereits an-
gekündigten dreima-
ligen Auftreten der
Madame Estrella di
Granada zu: Die
durch ihre Schönheit
und Grazie und
ihren phänomenalen
Stimmzauber welt-
berühmt gewordene
spanische National-
fängerin Estrella, die
den Beinamen,Nach-
tigall von Granada'
führt, sieht auf eine
Vergangenheit zu-
rück, in der auch die
hohe Politik eine be-
deutsame Nolle
spielte. Aus Volks-
kreisen hervorgegan-
gen, fesselte sie durch
ihre blendende Er-
scheinung und die
Kunst ihres Ge-
sanges den Herzog
Sagosta-Gonzago
derart, daß dieser
seine Verlobung mit
der dem spanischen
Hof nahestehenden
Prinzessin Ines von Altkastilien aufhob und trotz des
Einspruchs von Thron und Klerus die schöne Estrella
sich zur Linken antrauen ließ. Nach dem Tod des
Herzogs durch Kabalen in den Kreisen der Cortes mit-
samt ihrem Söhnchen verbannt, unternahm die,Nachti-
gall von Granada' Kunstfahrten durch die Alte und
die Neue Welt, die ihren Ruhm aufs neue begründeten.
Ihr hiesiges Auftreten wird voraussichtlich ihr letztes
sein, denn soeben gelangt die Nachricht hierher, daß die
Königin-Regentin von Spanien durch einen Gnadenakt
den schwierigen und verwickelten Prozeß aus der Welt
schaffen wird, der nun schon seit Jahren von der um
die Erbfolge gebrachten Witwe des Herzogs von Sagosta-
Gonzago gegen mehrere Grandenfamilien Madrids in
der Schwebe gehalten wurde. Die ,Nachtigall von
Das Koröanshängen in Thüringen. Originalzeichnung von N. Mahn. (S. 664)
Magda schlich gedrückt umher. Man hän-
selte sie, zog sie auf, weil sie fo stolz auf
ihren Verkehr mit Seiner Durchlaucht gewesen war.
Wie sie sich Hettore gegenüber benehmen sollte, wußte
sie gar nicht. Er ignorierte sie übrigens — er igno-
riene sie alle.
Und dann kam seine Mutter an.
Magda erschrak zuerst, als sie sie bei Tische sah.
Sämtliche Pensionäre trugen spöttische Mienen zur Schau.
Nur Hettore strahlte. In seinem Glück, neben seiner
schönen, berühmten Mutter zu sitzen, schien er Magda
ihr seltsames Betragen von neulich sogar verzeihen zu
wollen, denn er nickte ihr lächelnd zu.
Magda musterte wieder und wieder die etwas
fettige, saloppe, verblühte, stark brünette Frau, die
Granada' dürfte sich nach ihrem Abschied von der Kunst
wieder auf El Dorado, dem Sagosta-Gonzagoschen
Stammschlosse in Südgranada, niederlassen."
Die Engländerin sand es „LbollinZ", daß man hier
Thür an Thür mit dem Sohn einer solchen Person
leben mußte, die in öffentlichen Lokalen sang. Auch für
die übrigen Mitglieder der Pension war aller Zauber,
der sie mit dem Worte Prinz berührt hatte, nun mit
einem Schlage dahin. Die beiden Berliner thaten so,
als hätten sie eine derartige Enthüllung schon längst er-
wartet,
mit ihrem theatralischen Aufputz, ihren vielen Gesten,
ihrer gemachten Eleganz einen nichts weniger als herzog-
lichen Eindruck machte.
Wenn Sagosta-Gonzago noch lebte — ob er an
der Seite dieser gealterten „Nachtigall von Granada"
auf seinem Dorado glücklich gewesen wäre?
Als Hettores Mutter plötzlich aufsprang und sich in
ihrer lärmenden Art umständlich verabschiedete, weil sie
zur Probe mußte, tauschten die Pensionäre Blicke mit-
einander — Blicke, die der Thüringerin deutlich genug
deren Urteil über die „spanische Herzogin" verkündeten.
Aber auch Het-
tore mußte wohl
endlich begriffen
haben.
Seine Mritter
hatte nicht dulden
wollen, daß er den
Nachtisch versäumte;
dennoch hatte er sie
bis zur Thür be-
gleitet und sich von
ihr verabschiedet, in-
dem er ihr innig
und ehrfurchtsvoll
oie Hände küßte. Die
Pensionäre aber hat-
ten kaum genickt,
als sie ihnen adieu
sagte.
Stumm und be-
engt saß er nun da.
Die Berliner
führten das Wort,
trotzdem Madame
Faure, die während
der ganzen Mahlzeit
wie aus Kohlen ge-
sessen, dem Gespräch
eine andere Wen-
dung zu geben be-
müht nmr.
„Wo gehen Sie
heute abend hin?"
fragte der eine den
anderen über den
Tisch weg.
„Ich?O, ich habe
noch keinen Plan.
Im Theater ist
Spmphoniekonzert."
„Das ist lang-
weilig. Kommen Sie
mit ins Kasino."
„Was giebt's
da? Drahtseilkünst-
lerinnen, Bauch-
redner und Clowns
— es ist ja stets
derselbe Zauber."
„O, haben Sie
die neue Ankündi-
gung noch nicht ge-
sehen? Das herr-
liche Plakat, das
an allen Ecken an-
geschlagen ist?"
„Nein, ich war
noch nicht in der
Stadt heute."
„Eine bildschöne
Spanierin. Estrella
, Sie müssen mit-
oder ähnlich. .-
kommen. — Schließt sich sonst noch
WG. jemand an? — Vielleicht Mademoi-
feile Hoffmann?"
Magda war dunkelrot geworden,
8 antwortete aber nicht.
I „Ich denke, Sie interessieren sich
L so lebhaft für Spanien, Mademoiselle
l Hoffmann?"
I Eine kurze Pause. Magda hörte,
W. wie es in der Brust Hettores, der
neben ihr saß, arbeitete. Er fuhr jetzt
plötzlich empor. Eine Wildheit blitzte
' aus seinen dunklen Augen, wie sie
- „och keiner an ihm bemerkt hatte.
Er fuchtelte mit den Fäusten durch
die Luft — er öffnete den Mund — aber nur ein
halblauter, stöhnender Ausruf drang aus seiner Kehle.
Hastig wandte er sich ab, denn er wollte niemand
seine thränengesüllten Augen sehen lassen, und in der
nächsten Sekunde war er draußen.
Madame Faure reichte ihrem Nachbar Ne Mllch-
reisspeise. Ihre Hand zitterte dabei.
„Monsieur Köpp", wandte sie sich an den Studenten,
so ruhig es ihr möglich war, „ist es Ihnen bekannt,
daß die Dame, die im Kasino von Carouge auftreten