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Blum, Gerd
Hans von Marées: autobiographische Malerei zwischen Mythos und Moderne — München, Berlin, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.14541#0242

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VI. Autobiographie und Abstraktion

Bildganzen das, »was man im eigentlichen Sinne Komposition nennen mag« (Fied-
ler)69, in den Vordergrund. Für diese auf das Bildganze gerichtete Sehweise ist die
eingangs angeführte Aussage Schefflers von 1909 zutreffend: Bei Marees gäbe es
»kaum ein Stoffinteresse [...] Schwingung ist alles Wir sehen auf sei-
nen Bildtafeln ein System von Vertikalen, Horizontalen, Parallelen und
Winkeln aus menschlichen Gliedern gebildet, F...1 gegenstandslos im dra-
matischen Sinn. [...] Alles ist Raummathematik, aber diese Mathematik ist
das Leben selbst.«70 71 72 73 74
In Anschauung der formalen Gesamtordnung des Bildes wird das Gegenständliche
in seiner Besonderheit und Verschiedenheit unter der Norm der Mittelsenkrechten
im visuellen Prozess des Relationierens von Formwerten »überspielt«. Betrachtet
man den mittleren Stamm dagegen im Hinblick auf die separaten szenischen Ein-
heiten als Unterteilung des Bildes, so wird die Aufmerksamkeit auf die gegenständ-
liche Besonderheit der Teilfelder und ihrer Figuren gelenkt.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass Fiedlers Diagnose eines problemati-
schen Verhältnisses von Syntax und Semantik auf das Bildganze zweifellos zutrifft,
nicht jedoch auf die drei Teilfelder und das in ihnen Dargestellte. In den Lebens-
altern überlagern sich zwei visuelle Strukturen: die syntaktisch zwar reich artiku-
lierte, aber letztlich auf eine evidente Veranschaulichung des körpersprachlichen
Ausdrucks der Figuren und seines semantischen Gehalts abzielende Struktur der
Teilfelder (Abb. 79, 80) und die syntaktisch hochkomplexe, semantisch jedoch
indifferente Komposition des Gesamtbildes (Abb. 78). Beide sind nicht gleich-
zeitig wahrnehmbar.'1 So wenig die Aussage Lankheits, die Figuren seien bloßes
»Mittel zur Rhythmisierung des Bildes«'2 auf die Binnenfelder zutrifft, so berech-
tigt erscheint sie im Blick auf das Bildganze.
Dieser — leicht zu gewahrende und schwer zu formulierende — Widerstreit wird
an der erörterten ambivalenten Funktion des mittleren Stammes deutlich, die die-
69 Fiedler 1991 (1889), Bd. I, S. 259.
70 Scheffler 1911 (1909), S. 114.
71 Die »Frage, ob die Form, die hier so stark hervortritt, sieh dadurch verselbständigt und in Ge-
gensatz zur Gegenständlichkeit der einzelnen Menschen tritt«, hat H. Börsch-Supan verneint.
Vielmehr sei die Form »gegenständlich gemeint«, »nämlich als Symbol für menschliche Zu-
sammengehörigkeit.« Dem auf »Harmonie und Ausgeglichenheit zielenden Streben von Marees
würde eine »Antinomie von Gegenstand und Form« (Börsch-Supan 1968, S. 5) nicht entspre-
chen. Das hier angewendete Verfahren, ein bildliches Phänomen interpretativ durch das
»eigentlich« Gemeinte außer Kraft zu setzten, erscheint mir problematisch.
72 Lankheit 1952a, S. 14 (vgl. in der vorliegenden Arbeit 1.1.): »Die Geste des orangenpflücken-
den Mannes rechts ist nicht die eines tätigen Arbeiters, ebenso zweckfrei ist die Bewegung des
sich bückenden Greises. Es ist auch abwegig, etwa die Gebärde des signorellihaften jungen
Mannes, der links wie ein Eckpfeiler der Komposition steht, als Geste des Sich-Besinnens, des
Nachdenkens zu interpretieren und damit ein stimmungsmäßiges Element in die Darstellung
hineinzulesen. Die Gebärdensprache der Figuren >bedeutet< nichts, sie ist vielmehr [...] nur
ein Mittel zur Rhythmisierung des Bildes«.
73 Konnerth 1909, S. 131.
74 Einen ähnlichen Widerstreit von Gegenstand und Komposition zeigt schon das Frühwerk Die

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