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Blum, Gerd
Hans von Marées: autobiographische Malerei zwischen Mythos und Moderne — München, Berlin, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.14541#0139

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I V.2. Die private Ikonographie der >Hesperidenbilder

rengemälde Gauguins eine nicht mehr ikonographisch vorgegebene, sondern »freie
Entwicklung ihres Stoffes«19.
Die kulturgeschichtlichen Begründungen, die der Auflösungsprozess der klas-
sischen Ikonographie gefunden hat, sind vielfältig. Er ist interpretiert worden als
Ergebnis eines »umfassenden Säkularisierungsprozesses«20 — des Verlustes des
mythologischen und christlichen Überbaus, mit dem schon Marx das Ende der
klassischen Allegorie in Verbindung gebracht hat.21 Er ist auch gedeutet worden
als Symptom einer durchgreifenden Historisierung des Blicks auf die Geschichte
und die Kunst der Vergangenheit““ und als Folge einer radikalen Verinnerlichung
und Vereinzelung der Erfahrungen des Künstlers wie überhaupt des Individuums
in der modernen Gesellschaft. Diese habe sich nicht mehr in konventionalisierten
Zeichen vergangener Epochen darstellen lassen.
Das zuletzt genannte Argument, das Kurt Badt in seiner Cezanne-Studie von
1956 breit ausgeführt hat,23 trifft für Marees in besonderem Maße zu. Bei ihm geht
die Abwendung von den kanonischen Themen der Tradition einher mit einer ent-
schiedenen künstlerischen Hinwendung zur eigenen Lebenserfahrung. Für deren
Ausdruck und für deren verallgemeinernde Transformation in Sinnbilder, die dem
Publikum verständlich sein sollten, schien ihm die traditionelle Ikonographie
offenbar ungeeignet zu sein.

»Börsen zum Beispiel mögen notwendige Atmungsorgane des modernen Lebens sein und sollen
in der Mitte des Luxusquartiers einer großen Stadt eine reiche bauliche Physiognomie erhal-
ten. Es hat aber keinen Sinn mehr, wenn an der Börse von Brüssel schon die Podeste der Vor-
treppe mit großen Gruppen, Löwen von Genien gehalten, beginnen: Die eigentlichen Abstracta
wären auf einer Börse die Gestalten der Hausse und Baisse, und diese könnte man ja auf dem
Giebel eines solchen Gebäudes auf einem ehernen Wagebalken und vom Winde beweglich
anbringen, weiterer Allegorien, wozu der Ort einladen würde, nicht zu gedenken, zum Beispiel
der Dämonen des Kraches« (Burckhardt 1933 [1887], S. 424).
22 Vgl. Busch 1993, S. 7: »In dem Bewußtsein, nicht mehr bruchlos in einer lange verbindlichen
Kunsttradition zu stehen und aus einem Gefühl der Fremdheit heraus, begannen die Künstler
des 18. Jahrhunderts die Überlieferung historisch-kritisch zu bedenken, in ein reflexives Ver-
hältnis zu ihr zu treten.« Hans Jakob Meier hat sich mit den Folgen des beginnenden >Histo-
rismus< für die »Auflösung des überlieferten Historienbildes« anhand der Buchillustration des
18. Jahrhunderts in Deutschland beschäftigt (Meier 1994). Der Verfasser dankt Hans Jakob
Meier herzlich für anregende Gespräche.
23 Vgl. Badt 1956, insbes. S. 94ff. Nach Auffassung Badts ist es »eine Eigentümlichkeit der schaf-
fenden Geister des neunzehnten Jahrhunderts [...], das eigene Schicksal zum Gegenstand
ihrer Werke zu machen«. In der bildenden Kunst sei Courbet mit seinem Atelier der erste, der
»das Künstlerleben als möglichen Gegenstand der Malerei« zeige: »Das kommt daher, weil für
ihn die Darstellung historischer Stoffe erledigt ist: die bisher in der Malerei verwandten Gegen-
stände und der Darstellung für würdig erachteten Werte, das Erhabene, das Große, das Rüh-
rende, das Edle, sie bedeuten ihm nichts mehr, und er hat den Mut, das zu gestehen« (Badt
1956, S. 94). »Zwischen Delacroix und der folgenden .Malergeneration zeigt sich die Verände-
rung im Wesen des Künstlertums auch am Wandel der künstlerischen Themen. Die allgemei-
nem Gegenstände aus Geschichte und Literatur verlieren künstlerisch ihre Bedeutung; an ihre
Stelle treten Motive, die einzig und allein dem persönlichen Interesse der Künstler ihre Ver-
wendung verdanken. In diesen privaten Themen aber bemühen sich Maler wie Millet,
Courbet und Daumier, die schicksalhaft gewordene Vereinsamung und Vereinzelung des Indi-
viduums mit der Darstellung selbst aufzuheben« (ebd., S. 104: Hervorhebung von G.B.).

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